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Tagebücher294
ich habe mit den verschiedensten geschäften vollauf zu thun, vor Allem
mit der leitung des Wanderers. derselbe ist endlich aus den händen som-
mers oder vielmehr seiner creditoren befreyt worden und erscheint nun in
försters litterarischartistischer Anstalt. dieses ist nicht ohne bedeutende
geldopfer zustande gebracht worden. das eigenthum des Blattes soll nun
an den bisherigen hauptredacteur grass übergehen, welcher wieder nur
mein namensträger seyn wird, da ich, wie natürlich, weder der regierung
noch seyfried gegenüber irgendwie genannt werden will, aber auch gegen
die übertragung an grass scheinen von der Polizey Anstände erhoben zu
werden, und so dauert dieses unerquickliche Provisorium noch immer fort.
grass selbst aber ist eine ganz unbedeutende etwas konfuse Persönlichkeit,
der in dem spießbürgerlichen liberalismus des vormärz befangen und nicht
einmahl leicht zu leiten ist, er ist mir aber sowohl als mein namensträger
der regierung gegenüber als wegen seines verhältnisses zu seyfried (dem
bisherigen eigenthümer) unentbehrlich, und so muß ich mit ihm paktiren,
anstatt unumschränkt disponiren zu können.
diezel sendet fleißig Artikel aus gotha, wo er auf meine empfehlung (viel-
leicht wäre es auch ohne diese geschehen) vom herzoge sehr gut empfan-
gen worden ist und die Zusicherung ungehinderten Aufenthaltes erhalten
hat, auch ich habe ein paar leitartikel geschrieben, u.a. eine Art Programm
in einer der ersten nummern dieses monats.1 egbert Belcredi, der für Böh-
men und mähren die sammlung von correspondenzen und Abonnenten
1 Wanderer v. 1.1.1857, morgenblatt: monatsschau für dezember 1856. Ausgehend von den
vorgängen im schweizer kanton neuenburg (vgl. eintrag v. 18.12.1856) schreibt Andrian,
dass man einer regierung das recht nicht absprechen könne, sich auf gesetzlichem Wege
gegen Aufstandsversuche zu wehren, auch wenn diese regierung auf widerrechtlichem
Weg entstanden sei, wenn sie nur schon einige Jahre unangefochten regiert hat und vom
Ausland durch die fortsetzung der diplomatischen Beziehungen anerkannt worden sei:
„die unterscheidung zwischen einer factischen und einer gesetzlichen regierung auf alle
Zeiten hinaus durchführen wollen, hieße das ganze europäische völkerrecht auf den kopf
stellen.“ übergehend zur frage der union der donaufürstentümer meint Andrian, wenn
das von frankreich vorgeschlagene Prinzip der entscheidung durch die majorität der
mächte auch auf diese frage angewandt würde, „hätte es dann mit der unabhängigkeit
jedes einzelnen staates sein ende.“ österreich, für das es sich hier um eine lebensfrage
handle, könne dem sicherlich nicht zustimmen. Abschließend nutzt Andrian eine instruk-
tion des französischen innenministers „in Betreff des täglich zunehmenden umsichgrei-
fens der centralregierung in den Angelegenheiten der gemeinde- und localverwaltung“
zur Propagierung seiner dezentralisationsidee: „solche nothrufe constatiren wohl das ue-
bel, und die verlegenheiten, welche den regierungen daraus erwachsen – sie helfen ihnen
aber nicht ab – denn der fehler liegt im systeme selbst, nicht in der Art der Ausführung,
und es kann daher nur durch ein verlassen dieses systems geholfen werden. frankreich
aber verdankt diesem systeme seine zahlreichen revolutionen und die jedesmalige Wider-
standslosigkeit des landes gegen die Bewegungen im centrum.“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien