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Mai 1857
vertreter bestellen zu dürfen, denn ich fühle es, daß meine gesundheit und
meine geistige elasticität darunter gelitten haben, daß ich mich nun seit an-
derthalb Jahren nur auf Augenblicke von hier entfernen konnte, ich bedarf
der erholung und bin entschlossen, einen theil des sommers, vielleicht auch
des nächsten Winters von hier wegzubleiben. übrigens ist diese leitung der
italienischen gesellschaft nicht uninteressant, jedenfalls interessanter als
bey jeder anderen ähnlichen unternehmung, da bey der beständigen Be-
rührung mit 5–6 regierungen, darunter einige, wie Piemont und Parma,
entschieden antiösterreichisch, und bey einem aus 4 nationalitätsgruppen
zusammengesetzten verwaltungskörper ziemlich häufig fragen von poli-
tischen, überhaupt von einem höheren als dem bloßen geldinteresse auf-
tauchen, dabey repräsentire ich denn so ziemlich allein das österreichische
interesse und finde in dieser Beziehung meine stütze vorwiegend in dem
büreaukratischen elemente unseres verwaltungsrathes, welches mir sonst
in allen anderen Beziehungen das widerwärtigste und auch das schwierig-
ste zu behandeln ist. die italiener, franzosen und engländer sind eo ipso
neutral, wo nicht feindlich gesinnt, und selbst unter den 11 Wiener Admi-
nistratoren ist das kaufmännische element, mit rothschild an der spitze,
für alle politischen rücksichten vollkommen indifferent, und leider kann ich
von dem ungarischen, welches Zichy vertritt und mit der gewohnten came-
raderie der ungarn bey jeder gelegenheit zu verstärken weiß (z.B. durch
lamotte’s Wahl an die stelle Jules Appony’s, und jetzt eben durch die tony
szécsén’s an die des verstorbenen lamotte1), dasselbe, wo nicht schlimme-
res sagen. der ungar fühlt immer eine gewisse schadenfreude (mag er sich
gegen die dynastie noch so loyal geberden), wenn er dem österreichischen
Staatsinteresse eines versetzen kann. Zwey solche fälle sind eben jetzt im
Zuge: die erbauung einer Bahn von Piacenza, der österreichischen festung,
an die piemontesische grenze, und der Anschluß der lombardischen Bahnen
an die piemontesische, also an genua, noch ehe sie mit triest verbunden
sind. ich kann und will es nicht über mich bringen, über dem momentanen
pekuniären interesse der gesellschaft die politischen interessen des öster-
reichischen staates zu vergessen. freylich muß mich die regierung dabey
unterstützen und der gesellschaft Aequivalente biethen. Zichy dagegen
stürmt rücksichtslos und unbarmherzig auf die regierung ein.
inzwischen schleppt sich die Westbahn in ächt büreaukratischer Weise
langsam fort, es wird protocollirt, remonstrirt, appellirt, sehr viel geschrie-
ben, Alles in der besten ordnung, aber es geht nichts vom flecke. Wicken-
burg ist ganz der mann, um die ganze unternehmung zu ruiniren. dabey
1 Der am 7.4.1857 verstorbene Graf Antoine de la Motte war mit einer Gräfin Almásy verhei-
ratet und hatte enge Beziehungen zum ungarischen altkonservativen Adel.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien