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August 1857
mehreren gründen für sehr zeitgemäß halte. Wir kamen überein, daß er ihn
entwerfen und mir sodann zur censur und Beurtheilung schicken werde.
gestern fuhr ich dann nach lindau und nahm dort auf diese paar tage
mein hauptquartier.
dort fängt die cohue und der menschenstrom an, der jetzt einem anstän-
digen menschen die schweiz verleidet, und noch dazu ist diese fluth von
reisenden seit einigen Jahren in der Qualität bedeutend herabgekommen,
statt anständiger engländer grassirt gegenwärtig hier der „gebildete deut-
sche mittelstand“, die mir unerträglichste menschenclasse, so achtungs-
werth sie sonst auch seyn mag. um so mehr werde ich trachten, bald von
dieser heerstraße wegzukommen. ich habe mir heute Bregenz angesehen
und bin dann über romanshorn per eisenbahn hieher gekommen. morgen
will ich eine seefahrt nach rapperschwyl machen und dann über st. gallen
übermorgen mittags nach lindau zurückkehren, um sogleich von dort weiter
nach Paris zu fahren. hier hat mich der eigenthümer des hôtels mit gro-
ßen ehren aufgenommen, da er mich aus frankfurt her kennt, wo er, wie er
sagte, 1848 und 49 im hôtel de russie angestellt war.
eine erholung von den gedanken und Arbeiten, die mich das ganze Jahr
über beschäftigen, habe ich nach dem gesagten bisher noch nicht gefunden,
doch hoffe ich, sie von jetzt an zu finden, ich bedarf ihrer physisch und mo-
ralisch. meine nerven haben sich auch in diesen letzten tagen wieder ge-
regt, nachdem ich sie seit monathen nicht mehr gefühlt hatte, mit Ansatz zu
schwindeln und kopfschmerzen wie im letzten märz.
ernstlich aber bekümmert mich die neueste Wendung der orientalischen
frage. england hat uns richtig im stiche gelassen, und louis napoléon hat
in osborne triumphirt.1 Brauchen sie ihn in indien oder china, weil sie auf
uns nicht zählen zu können glauben, oder fürchteten sie einen coup de tête
dieses kaiserlichen Polichinelle in Paris, welcher schon so weit gegangen
war, daß er schwer mit ehren zurückkönnte, kurz die engländer haben uns
sitzen gelassen. nun würde zwar ich als minister mich daran nicht kehren,
sondern entweder ganz einfach ein veto (mit kriegsbereitschaft) einlegen
oder die unabhängigkeit der Pforte als schild vorschützen, aber wird Buol
oder der kaiser den muth haben? schwerlich, und wie wird dieser triumph
frankreichs moralisches Ansehen im oriente heben und das unsere schwä-
chen! und welche wird die stellung unserer diplomaten in constantinopel,
1 Bei den verhandlungen zur Beilegung der neuen krise um die donaufürstentümer (vgl.
eintrag v. 8.8.1857) im rahmen des Besuchs des französischen kaiserpaars bei königin
victoria auf schloss osborne auf der isle of Wight stimmte england der Annullierung der
moldauischen Wahlen zu, während frankreich die forderung nach politischer vereinigung
der fürstentümer zurückstellte.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien