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Jänner 1858
ein coup de tête von seiner seite geschehen. Bey uns ist ein vollständiger
stillstand in legislatorischer Beziehung eingetreten und, wie es scheint, oben
eine tiefe entmuthigung, man sieht ein, daß man auf dem eingeschlagenen
Wege nicht vorwärts kömmt, daß das land und alle klassen der Bevölkerung
sich immer mehr von der regierung abwenden, und daß der moment doch
einmahl kommen könnte, wo man den Beystand und das vertrauen des lan-
des brauchen wird. trotz der Absperrung und des eigensinnes, welche am
hofe herrschen, dringen die allgemeinen klagen über die mißregierung, über
die ungeschicklichkeit und Brutalität der verwaltung doch am ende durch,
die unerschwingliche last der steuern, welche bey den jetzigen niedern
fruchtpreisen doppelt fühlbar ist, und bey allem dem die unzulänglichkeit
der staatseinnahmen, um die Ausgaben zu decken, wie sie das gegenwärtige
system nothwendig macht. man fühlt also, daß es schlecht geht, weiß aber
nicht, ob und wie es besser zu machen sey? das sind die folgen, wenn man
niemand hören will, der ein anderes Wort als stereotype loyalitätsphrasen
spricht, weder die Presse, noch einzelne, selbst über jeden verdacht erhabene
männer. Bach versteckt sich und tritt in den hintergrund, wie immer, wenn
der Barometer auf sturm deutet. Bruck hat oder affectirt viel Zuversicht und
besteht darauf, daß am 1. Jänner 1859 die valutaverhältnisse geordnet seyn
werden, als ob damit allein viel geholfen wäre. ich bin neugierig, ob und wel-
che Wirkung mein Aufsatz in der revue des deux mondes (wenn diese ihn
überhaupt aufnimmt, worüber ich noch nichts gewisses weiß) unter diesen
umständen macht, ich habe ihm geflissentlich eine französische färbung zu
geben versucht und ihn zwar positiv, jedoch mehr allgemein gehalten, er soll
ja nichts weiter seyn als ein fühler im gegenwärtigen Augenblicke.
die unterhandlungen mit dem Wanderer haben sich zerschlagen. grass
stellte so exorbitante forderungen, daß ich, da ich ja nicht freye hand hatte,
sie nicht bewilligen konnte, der mann schmeichelt sich unbegreiflicherweise,
trotz des stempels1 das Blatt zu einem gewinnbringenden unternehmen zu
machen, während es im vorigen Jahr mit mehr als 12.000 fl passiv war, es
bleibt daher nichts Anderes übrig als abzuwarten, ob er nicht in einiger Zeit,
durch die erfahrung belehrt, klein beygeben werde? dieses fehlschlagen hat
mir einen großen strich durch meine rechnung gemacht, denn ich halte,
wie bereits erwähnt, gerade den jetzigen moment für vorzugsweise geeig-
net, mit einer entschiedenen und positiven richtung hervorzutreten und an
die organisirung einer Parthey hand anzulegen, in einem Jahre dürfte es
vielleicht zu spät seyn. übrigens habe ich für jetzt jede verbindung mit dem
Wanderer abgebrochen und ihm das capital gekündigt, welches ich ihm im
vorigen Jahr vorgestreckt hatte.
1 der mit 1.1.1858 wieder eingeführte Zeitungsstempel, vgl. eintrag v. 16.12.1857.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien