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Tagebücher356
dem erzherzog mag es vielleicht mit der Zeit gelingen, sich persönlich
populär zu machen (wenn er nämlich consequent bleibt und nicht abspringt,
nach seinem ganzen charakter ist aber eher letzteres zu erwarten), damit
wird aber für die Regierung nichts gewonnen, die Popularität vielleicht über-
haupt zu theuer erkauft seyn. in kritischen momenten aber, welche heutzu-
tage jeden Augenblick eintreten können, wird er eine verlegenheit und zwar
eine große für die regierung seyn, sowohl durch seinen conflict mit dem mi-
litär als durch seine Persönlichkeit. überall ist diese erzherzogswirthschaft,
welche nie mehr im schwunge war als jetzt, eine calamität, nirgends aber
mehr als in italien.
hier werden jetzt im landhause wöchentlich 2 mal wissenschaftliche vor-
lesungen, abwechselnd über historische und naturwissenschaftliche gegen-
stände, gehalten, welche sehr zahlreich und namentlich auch von der höch-
sten Aristokratie (freylich bis jetzt nur von den damen) besucht werden, ein
erfreuliches symptom.
ich habe die klagen, welche mir in italien über den geist der eisen-
bahnverwaltung zu ohren kamen, Bruck mitgeteilt (mit Zichy darüber zu
sprechen, was eigentlich der einfachste Weg gewesen wäre, hätte zu nichts
geführt) und ihm vorgeschlagen, sich über diese dinge vorerst genau zu in-
formiren, ehe an ein mittel zur Abhülfe gedacht werden könne. er hat das
ganze mit seinem gewöhnlichen leichtsinne aufgenommen, gegen die bü-
reaukratische mißgunst und chicane, welche in italien gegen die eisen-
bahngesellschaft herrsche (woran allerdings viel Wahres ist) geeifert und am
ende gesagt, er werde selbst bald nach italien gehen und sich dort näher
umsehen. die ganze antiösterreichische richtung der gesellschaft in großen
fragen (nicht in persönlichen, Anstellungsfragen einzelner Beamter), die
vernachlässigung der linien, die nach triest und Wien, die Beschleunigung
jener, die nach Piemont und frankreich führen, etc., vergißt er oder über-
sieht sie geflissentlich.
die finanzielle krisis scheint vor der hand vergessen, und Alles ist in
dulci jubilo über das neue lottoanlehen der creditanstalt, welches ein neues
schwindelpapier zu werden scheint.1 Folglich schwimmt auch Bruck wieder
in vollem fahrwasser. für dieses Jahr, so sagt er, bedürfe er keines Anle-
hens, er hilft sich wohl mit schwindeleyen, mit der hinausgabe neuer obli-
gationen alter Anleihen oder anderen dergleichen ehrenhaften operationen.
es scheint überhaupt in den leuten wieder eine disposition zu der specula-
tionswuth von 1856 vorzuwalten und nur durch die politischen constellatio-
nen einigermaßen niedergehalten zu werden. diese letzteren scheinen sehr
bedenklich. louis napoléon verliert immer mehr den kopf, schlägt um sich
1 vgl. dazu eintrag v. 31.1.1858.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien