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Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus
Affektation. Das seltsame glühend-kalte Gespräch mit Grace auf dem
Friedhof im schmelzenden Feberschnee, zwei Tage nach Labinskis Begräbnis.
Der Abend im heißen, hochgewölbten Fechtsaal, wo Felicians Degen die
gefährliche Waffe des italienischen Meisters kreuzte. Der nächtliche
Spaziergang nach dem Paderewski-Konzert, auf dem der Vater ihm so
vertraut wie nie zuvor von jenem fernen Abend sprach, da die verstorbene
Mutter in dem gleichen Saal, aus dem sie eben kamen, in der Missa solemnis
gesungen hatte. Und endlich erschien ihm Anna Rosners hohe, ruhige Gestalt,
am Klaviere lehnend, das Notenblatt in der Hand, die blauen, lächelnden
Augen auf die Tasten gerichtet; und er hörte sogar ihre Stimme in seiner Seele
klingen.
Während er so am Fenster stand und in den Park hinunterschaute, der sich
allmählich belebte, empfand er es wie beruhigend, daß er zu keinem
menschlichen Wesen in engerer Beziehung stand, und daß es doch manche
gab, mit denen er wieder anknüpfen, in deren Kreis er wieder eintreten durfte,
sobald es ihm nur beliebte. Zugleich fühlte er sich wunderbar ausgeruht, für
Arbeit und Glück bereit wie niemals zuvor. Er war voll guter und kühner
Vorsätze, seiner Jugend und Unabhängigkeit sich mit Freuden bewußt. Zwar
fühlte er mit einiger Beschämung, daß, in diesem Augenblick wenigstens,
seine Trauer um den hingeschiedenen Vater sehr gemildert war; doch fand er
für diese Gleichgültigkeit einen Trost in sich, da er des quallosen Endes
gedachte, das dem teuren Mann beschieden war. Im Garten, heiter mit den
beiden Söhnen plaudernd, war er auf und abgegangen, hatte mit einem Mal
um sich geschaut, als hörte er ferne Stimmen, hatte dann aufgeblickt, zum
Himmel empor, und war plötzlich tot auf die Wiese hingesunken, ohne
Schmerzenslaut, ja ohne Zucken der Lippen.
Georg trat ins Zimmer zurück, machte sich zum Fortgehen fertig und
verließ das Haus. Seine Absicht war es, ein paar Stunden herumzuspazieren,
wohin der Zufall ihn führen mochte, und abends endlich wieder an seinem
Quintett weiterzuarbeiten, wofür ihm nun die rechte Stimmung gekommen
schien. Er überschritt die Straße und betrat den Park. Die Schwüle hatte
nachgelassen. Noch immer saß die alte Frau mit der Mantille auf der Bank
und starrte vor sich hin. Auf dem sandigen Rund um die Bäume spielten
Kinder. Um den Kiosk waren alle Stühle besetzt. Im Wetterhäuschen saß ein
glattrasierter Herr, den Georg vom Sehen kannte, und der ihm durch seine
Ähnlichkeit mit dem alten Grillparzer aufgefallen war. Am Teich kam Georg
eine Gouvernante entgegen, mit zwei schön gekleideten Kindern und
betrachtete ihn mit leuchtendem Blick. Als er aus dem Park auf die
Ringstraße trat, begegnete ihm Willy Eißler in langem dunkelgestreiften
Herbstpaletot und sprach ihn an:
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik