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»Sie lieben die Einsamkeit?«
»Auf so allgemeine Fragen läßt sich schwer antworten«, erwiderte Georg.
»Allerdings«, sagte Willy, wurde plötzlich ernst und lüftete den Hut. »Habe
die Ehre, Herr Baron.«
Georg reichte ihm die Hand. Er fühlte, daß Willy ein Mensch war, der
ununterbrochen eine Stellung verteidigte, wenn auch ohne dringende
Notwendigkeit. »Auf Wiedersehen«, sagte er mit unvermittelter Herzlichkeit.
Er empfand es, wie schon öfters, als beinahe sonderbar, daß Willy Jude war.
Schon der alte Eißler, Willys Vater, der anmutige Wiener Walzer und Lieder
komponierte, sich kunst- und altertumsverständig mit dem Sammeln,
zuweilen auch mit dem Verkauf von Antiquitäten befaßte und seinerzeit als
der berühmteste Boxer von Wien gegolten hatte, mit seiner Riesengestalt,
dem langen, grauen Vollbart und dem Monokel, sah eher einem ungarischen
Magnaten ähnlich, als einem jüdischen Patriarchen; aus Willy aber hatten
Anlage, Liebhaberei und eiserner Wille das täuschende Ebenbild eines
geborenen Kavaliers gebildet. Was ihn jedoch vor andern jungen Leuten
seines Stammes und seines Strebens auszeichnete, war der Umstand, daß er
gewohnt war, seine Abstammung nie zu verleugnen, für jedes zweideutige
Lächeln Aufklärung oder Rechenschaft zu fordern und sich gelegentlich über
alle Vorurteile und Eitelkeiten, in denen er oft befangen schien, selber lustig
zu machen.
Georg schlenderte weiter. Die letzte Frage Willys klang ihm nach. Ob er
die Einsamkeit liebte?… Er erinnerte sich daran, wie er in Palermo ganze
Vormittage allein herumspaziert war, während Grace ihrer Gewohnheit gemäß
bis Mittag im Bette lag. Grace… Wo mochte sie jetzt sein… ? Seit sie in
Neapel von ihm Abschied genommen, hatte sie nichts mehr von sich hören
lassen, wie es übrigens verabredet gewesen war. Er dachte an die tiefblaue
Nacht, die über den Wassern schwebte, als er nach jenem Abschied allein
nach Genua gefahren war, und an den seltsamen, leisen, wie märchenhaften
Gesang zweier Kinder, die dicht aneinandergeschmiegt, gemeinsam in einen
Plaid gehüllt, an der Seite ihrer schlafenden Mutter auf dem Verdeck gesessen
waren.
Mit wachsendem Behagen spazierte er unter den Leuten weiter, die in
sonntäglicher Lässigkeit an ihm vorübergingen. Mancher freundliche
Frauenblick begegnete dem seinen und schien ihn darüber trösten zu wollen,
daß er an diesem schönen Feiernachmittag einsam und mit allen äußern
Abzeichen der Trauer umherwandelte. Und wieder tauchte ein Bild in ihm
auf. Er sah sich auf einer hügeligen Wiese liegen, spät abends, nach einem
heißen Junitag. Dunkelheit ringsum. Tief unter ihm Gewirr von Menschen,
Lachen und Lärm, glitzernde Lampions. Ganz nah aus dem Dunkel
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik