Seite - 12 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 12 -
Text der Seite - 12 -
unaufrichtigen Art spielten die Beziehungen weiter, als der Verkehr in Wien
aufgenommen und fortgesetzt wurde. Immer von neuem schien Else von dem
gleichmäßig freundlichen Wesen wohltätig berührt, mit dem Georg ihr auch
dann entgegentrat, wenn sie einander monatelang nicht gesehen hatten. Sie
selbst aber war von Jahr zu Jahr äußerlich sicherer und innerlich unruhiger
geworden. Ihre künstlerischen Bestrebungen hatte sie früh genug alle fallen
lassen, und im Laufe der Zeit erschien sie sich zu den verschiedensten
Lebensläufen ausersehen. Manchmal sah sie sich in der Zukunft als
Weltdame, Veranstalterin von Blumenfesten, Patronesse von großen Bällen,
Mitwirkende an aristokratischen Wohltätigkeitsvorstellungen; öfters noch
glaubte sie sich berufen in einem künstlerischen Salon unter Malern,
Musikern und Dichtern als große Versteherin zu thronen. Dann träumte sie
wieder von einem mehr ins Abenteuerliche gerichteten Leben: sensationelle
Heirat mit einem amerikanischen Millionär, Flucht mit einem Violinvirtuosen
oder spanischen Offizier, dämonisches Zugrunderichten aller Männer, die sich
ihr näherten. Zuweilen schien ihr aber ein stilles Dasein auf dem Land, an der
Seite eines tüchtigen Gutsbesitzers, das erstrebenswerteste Ziel; und dann
erblickte sie sich im Kreise von vielen Kindern, womöglich mit früh
ergrautem Haar, ein mild resigniertes Lächeln auf den Lippen, an einfach
gedecktem Tisch sitzen und ihrem ernsten Manne die Falten von der Stirne
streichen. Georg aber fühlte immer, daß ihre Neigung zur Bequemlichkeit, die
tiefer war, als sie selbst ahnte, sie vor jedem unbedachten Schritt schützen
würde. Sie vertraute Georg mancherlei an, ohne jemals ganz ehrlich mit ihm
zu sein; denn am öftesten und ernstesten hegte sie den Wunsch, seine Frau zu
werden. Georg wußte das wohl, aber nicht allein darum erschien ihm das
neueste Gerücht von ihrer Verlobung mit Heinrich Bermann ziemlich
unglaubwürdig. Dieser Bermann war ein hagerer, bartloser Mensch mit
düstern Augen und etwas zu langem schlichten Haar, der sich in der letzten
Zeit als Schriftsteller bekannt gemacht hatte, und dessen Gebaren und
Aussehen Georg, er wußte selbst nicht warum, an einen fanatischen jüdischen
Lehrer aus der Provinz erinnerten. Das war nichts, was Else besonders
fesseln, oder nur angenehm berühren konnte. Allerdings, wenn man länger
mit ihm sprach, änderte sich jener Eindruck. Eines Abends im vergangenen
Frühjahr war Georg mit ihm zusammen von Ehrenbergs fortgegangen, und sie
waren in eine so anregende Unterhaltung über musikalische Dinge geraten,
daß sie bis drei Uhr früh auf einer Ringstraßenbank weitergeplaudert hatten.
Es ist sonderbar, dachte Georg, wie vieles mir heute durch den Kopf geht,
woran ich kaum mehr gedacht hatte. Und ihm war, als wenn er in dieser
Herbstabendstunde allmählich aus der schmerzlich-dumpfen Versonnenheit
vieler Wochen zum Tage emporgetaucht käme.
Nun stand er vor dem Hause in der Paulanergasse, wo die Rosners
12
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik