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»Es tut mir wirklich leid, aber sehen Sie, Fräulein Anna, ich hätte
wahrhaftig heuer keine angenehme Gesellschaft vorgestellt, das können Sie
sich wohl denken.«
Anna sah ihn ernst an. »Glauben Sie nicht«, sagte sie, »daß man Ihnen
vielleicht hätte helfen können manches tragen?«
»Es zieht, Anna«, rief Frau Rosner von drinnen.
»Ich komm ja schon«, erwiderte Anna etwas ungeduldig. Aber Frau Rosner
hatte die Tür schon geschlossen.
»Wann darf ich wiederkommen?« fragte Georg.
»Wann es Ihnen angenehm ist. Allerdings… ich müßte Ihnen eigentlich
eine schriftliche Stundeneinteilung geben, damit Sie wissen, wann ich zu
Hause bin, und damit wäre auch noch nichts getan. Oft geh ich spazieren,
oder habe Besorgungen in der Stadt, oder schau mir Bilder an, oder
Ausstellungen… «
»Das könnte man doch einmal zusammen tun«, sagte Georg.
»O ja«, erwiderte Anna, nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und
entnahm diesem ein winziges Notizbuch.
»Was haben Sie denn da?« fragte Georg.
Anna lächelte und blätterte in dem Büchlein. »Warten Sie nur…
Donnerstag elf Uhr wollte ich mir die Miniaturausstellung in der
Hofbibliothek ansehen. Wenn Sie das auch interessiert, so können wir uns
dort treffen.«
»Aber sehr gern.«
»Also schön. Dort können wir gleich besprechen, wann Sie mich das
nächstemal zum Singen begleiten.«
»Abgemacht«, sagte Georg und reichte ihr die Hand. Es fiel ihm ein, daß
gewiß, während hier draußen Anna mit ihm plauderte, sich drin im Zimmer
der junge Doktor Stauber ärgern oder gar kränken mochte. Und er wunderte
sich, daß er diesen Umstand selbst offenbar unangenehmer empfand als Anna,
die doch im ganzen ein gutmütiges Wesen zu sein schien. Er löste seine Hand
aus der ihren, nahm Abschied und ging.
Als Georg auf die Straße kam, war es ganz dunkel geworden. Langsam
schlenderte er über die Elisabethbrücke an der Oper vorbei der inneren Stadt
zu und ließ, unbeirrt durch Geräusch und Treiben rings umher, sein Lied in
sich nachtönen. Er fand es seltsam, daß Annas Stimme, die im kleinen Raume
so reinen und gesunden Klang gab, jede Zukunft auf der Bühne und im
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik