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Nein, Worte! Nein, Buchstaben auf weißem Papier. Es ist geradeso, wie wenn
eine Totenhand alles berührt hätte. Ich fürchte, nächstens einmal, wenn ich
das Zeug nur angreife, fällt es auseinander wie Zunder. Ja, ich hab eine
schlechte Zeit; und wer weiß, ob je noch eine bessre kommen wird.«
Georg schwieg. Dann, mit einer plötzlichen Erinnerung an eine
Zeitungsnotiz, die er irgendwo über Heinrichs Vater, den ehemaligen
Abgeordneten Dr. Bermann gelesen hatte, und einen Zusammenhang
vermutend, fragte er: »Ihr Herr Vater ist leidend, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte Heinrich: »Ja. Mein Vater ist in einer
Anstalt für Gemütskranke, schon seit dem Juni.«
Georg schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.
Heinrich fuhr fort: »Ja, das ist eine furchtbare Sache. Wenn ich auch in der
letzten Zeit in keinem sehr nahen Verhältnis zu ihm gestanden bin, es ist und
bleibt furchtbarer, als man es sagen kann.«
»Unter solchen Umständen«, meinte Georg, »ist es ja sehr begreiflich, daß
es mit der Arbeit nicht recht gehen will.«
»Ja«, erwiderte Heinrich wie zögernd. »Aber es ist nicht das allein. Die
Wahrheit zu sagen, in meinem augenblicklichen Seelenzustand spielt diese
Sache eine verhältnismäßig geringfügige Rolle. Ich will mich nicht besser
machen, als ich bin. Besser… ! Wär ich dann besser… ?« Er lachte kurz, dann
sprach er weiter. »Sehen Sie, gestern dacht ich auch noch, es wäre alles
mögliche zusammen, was mich so niederdrückt. Aber heute hab ich wieder
einmal einen untrüglichen Beweis dafür erhalten, daß mich ganz nichtige, ja
läppische Dinge tiefer berühren, als sehr wesentliche, wie zum Beispiel die
Erkrankung meines Vaters. Widerwärtig, was?«
Georg sah vor sich hin. Warum begleit’ ich ihn eigentlich, dachte er, und
warum findet er es ganz selbstverständlich?
Heinrich sprach weiter mit zusammengepreßten Zähnen und mit
überflüssig heftigem Ton: »Heute Nachmittag hab ich nämlich zwei Briefe
bekommen. Zwei Briefe, ja… einen von meiner Mutter, die gestern meinen
Vater in der Anstalt besucht hat. Dieser Brief enthielt die Nachricht, daß es
ihm schlecht geht, sehr schlecht; kurz und gut, es wird wohl nicht lange mehr
dauern.« Er atmete tief auf. »Und natürlich hängt da noch allerlei daran, wie
Sie sich denken können. Schwierigkeiten verschiedener Art, Sorgen für meine
Mutter und meine Schwester, für mich. Und nun denken Sie; zugleich mit
diesem Brief kam ein anderer, der gar nichts von Bedeutung enthielt, so zu
sagen. Ein Brief von einer Person, die mir zwei Jahre hindurch nahe stand.
Und in diesem Brief war eine Stelle, die mir ein bißchen verdächtig erschien.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik