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Eine einzige Stelle… Sonst war dieser Brief, wie alle Briefe dieser Person
sind, sehr liebevoll, sehr nett… Und jetzt stellen Sie sich vor, den ganzen Tag
verfolgt mich, peinigt mich die Erinnerung an diese eine verdächtige Stelle,
die ein anderer überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich denke nicht an meinen
Vater, der im Irrenhaus ist, nicht an meine Mutter, meine Schwester, die
verzweifeln, nur an diese unbedeutende Stelle in diesem dummen Brief eines
durchaus nicht hervorragenden Frauenzimmers. Die frißt alles in mir auf,
macht mich unfähig zu fühlen wie ein Sohn, wie ein Mensch… Ist es nicht
scheußlich?«
Befremdet hörte Georg zu. Es erschien ihm sonderbar, wie dieser
schweigsame, verdüsterte Mensch sich ihm, dem flüchtig Bekannten, mit
einem Male aufschloß, und er konnte sich dieser unerwarteten Offenheit
gegenüber einer peinlichen Verlegenheit nicht erwehren. Auch hatte er nicht
den Eindruck, daß er diese Geständnisse einer besonderen Sympathie
Heinrichs verdankte, sondern spürte darin eher einen Mangel an Takt, eine
gewisse Unfähigkeit der Selbstbeherrschung, irgend etwas wofür ihm das
Wort »schlechte Erziehung«, das er schon irgend einmal – war es nicht von
Hofrat Wilt? – auf Heinrich anwenden gehört hatte, sehr bezeichnend
erschien. Sie gingen eben am Burgtor vorüber. Ein sternenloser Himmel lag
über der stummen Stadt. Durch die Bäume des Volksgartens rauschte es leise,
irgendwoher drang das Geräusch eines rollenden Wagens, der sich entfernte.
Da Heinrich wieder schwieg, blieb Georg stehen und sagte in möglichst
freundlichem Tone: »Nun muß ich mich doch von Ihnen verabschieden, lieber
Herr Bermann.«
»O«, rief Heinrich, »jetzt merk ich erst, daß Sie mich ein ganzes Stück
begleitet haben – und ich erzähl Ihnen oder vielmehr mir in Ihrer Gegenwart,
taktloserweise lauter Geschichten, die Sie nicht im geringsten interessieren
können… verzeihen Sie.«
»Was gibts da zu verzeihen«, erwiderte Georg leise, kam sich gegenüber
dieser Selbstanklage Heinrichs ein wenig wie ertappt vor und reichte ihm die
Hand. Heinrich nahm sie, sagte »auf Wiedersehen, lieber Baron«, und als
hielte er plötzlich jedes weitere Wort für eine Zudringlichkeit, entfernte er
sich eilig.
Georg sah ihm nach, mit Teilnahme und Widerwillen zugleich, und eine
plötzliche freie, beinahe glückliche Stimmung kam über ihn, in der er sich
jung, sorgenlos und zu der schönsten Zukunft bestimmt erschien. Er freute
sich auf den Winter, der vor der Türe war. Alles mögliche stand in Aussicht.
Arbeit, Unterhaltung, Zärtlichkeit, und es war im Grunde gleichgültig, von
wo alle diese Freuden kommen mochten. Bei der Oper zögerte er einen
Augenblick. Wenn er durch die Paulanergasse nach Hause ging, so bedeutete
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik