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gelegentlich selbst irgend was derart empfunden zu haben… Nur ist mir, Sie
wissen es ja, die Fähigkeit, mich selbst zu betrügen, im Lauf der Jahre völlig
abhanden gekommen.«
»Das glauben Sie vielleicht nur«, erwiderte Heinrich. »Wer weiß, ob es
nicht gerade diese Fähigkeit des Sichselbstbetrügens ist, die Sie im Laufe der
Zeit am stärksten in sich ausgebildet haben!«
Nürnberger lachte. »Wissen Sie, wie mir zu Mute ist, wenn ich Sie so reden
höre? Ungefähr wie einem Fechtmeister, der von seinem eigenen Schüler
einen Stich ins Herz bekommt.«
»Und nicht einmal von seinem besten«, sagte Heinrich.
Plötzlich erschien in der Türe Herr Ehrenberg, zur Verwunderung seiner
Frau, die ihn schon auf dem Wege zur Bahn vermutet hatte. Er führte eine
junge Dame an der Hand, die einfach schwarz gekleidet war und das Haar
nach einer verflossenen Mode auffallend hoch frisiert trug. Ihre Lippen waren
voll und rot, die Augen in dem lebendig blassen Gesicht blickten klar und
hart.
»Kommen Sie nur«, sagte Ehrenberg mit einiger Bosheit in den kleinen
Augen und führte den Gast geradewegs zu Else, die eben mit Stanzides
plauderte. »Hier bring ich dir einen Besuch.«
Else streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist aber nett.« Sie stellte vor:
»Herr Demeter Stanzides. – Fräulein Therese Golowski.«
Therese nickte kurz und ließ eine Weile ihren Blick auf ihm ruhen,
unbefangen, als betrachtete sie ein schönes Tier.
Dann wandte sie sich an Else: »Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr so große
Gesellschaft habt… «
»Wissen Sie, wie die ausschaut?« sagte Stanzides leise zu Georg, »wie eine
russische Studentin, nicht wahr?«
Georg nickte. »Ungefähr. Ich kenn sie. Es ist eine Institutsfreundin von
Fräulein Else, und jetzt, denken Sie sich, spielt sie eine führende Rolle bei
den Sozialisten. Neulich ist sie sogar gesessen, wegen Majestätsbeleidigung,
glaub ich.«
»Ja, mir scheint, ich hab so was gelesen«, erwiderte Demeter. »So eine Art
von Geschöpf sollte man wirklich einmal näher kennen lernen. Hübsch ist sie.
Ein Gesicht wie aus Elfenbein.«
»Und viel Energie liegt in den Zügen«, fügte Georg hinzu. »Ihr Bruder ist
übrigens auch ein merkwürdiger Mensch. Klavierspieler und Mathematiker.
Ich hab ihn neulich kennen gelernt. Und der Vater soll ein zugrund
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik