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Therese, es wird euch jüdischen Sozialdemokraten geradeso ergehen, wie es
den jüdischen Liberalen und Deutschnationalen ergangen ist.«
»Inwiefern?« fragte Therese hochmütig. »Inwiefern wird es uns geradeso
ergehen?«
»Inwiefern… ? das werd ich Ihnen gleich sagen. Wer hat die liberale
Bewegung in Österreich geschaffen?… Die Juden!… Von wem sind die Juden
verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die
deutschnationale Bewegung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem
sind die Juden im Stich gelassen… was sag ich im Stich gelassen… bespuckt
worden wie die Hund’?… von den Deutschen! Und geradeso wirds ihnen jetzt
ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe erst
aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird
immer so sein.«
»Wir wollens abwarten«, erwiderte Therese ruhig.
Georg und Demeter blickten einander an, wie zwei Freunde, die
gemeinsam auf eine Insel verschlagen worden sind. Oskar, der gerade
während der Rede seines Vaters eingetreten war, hatte schmale Lippen und
war sehr verlegen. Allen aber schien es eine Art Befreiung, als Ehrenberg
plötzlich auf die Uhr sah und sich empfahl.
»Wir werden ja heut doch nicht mehr einig«, sagte er zu Therese.
Therese lächelte: »Kaum. Glückliche Reise und noch einmal im Namen…
«
»Pst«, sagte Ehrenberg und verschwand.
»Wofür dankst du eigentlich dem Papa?« fragte Else sie leise.
»Für eine Spende, um die ich ihn unverschämterweise bitten kam. Aber es
gibt sonst keinen reichen Mann in meinem Bekanntenkreis. Über den Zweck
zu reden bin ich nicht berechtigt.«
Frau Ehrenberg trat zu Bermann und Nürnberger hin, die über den
Klavierdeckel hinweg mit einander sprachen, und sagte leise: »Sie wissen
doch, daß sie… «, sie wies mit den Augen auf Therese, »eben aus dem
Gefängnis entlassen worden ist?«
»Ich habe davon gelesen«, erwiderte Heinrich…
Nürnberger kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf die
Gruppe in der Ecke, wo die drei Mädchen mit Stanzides und Willy Eißler
plauderten, und schüttelte den Kopf. »Was für eine Bosheit unterdrücken
Sie?« fragte Frau Ehrenberg.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik