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Da fühlte er ihre Hand ganz leise über die seine streichen, mit einer ihm
wie neuen, sehr wohltuenden Zärtlichkeit. »Du, Georg«, sagte sie.
»Was denn?« fragte er.
»Wenn ich fromm wäre«, erwiderte sie, »möcht ich jetzt um was beten.«
»Um was?« fragte Georg beinahe ängstlich.
»Daß was aus dir wird, Georg. Was sehr Bedeutendes! Ein wirklicher, ein
großer Künstler.«
Unwillkürlich blickte er zu Boden, wie in Beschämung, daß ihre Gedanken
um soviel reinere Wege gegangen waren als die seinen.
Ein Bettler hielt den dicken, grünen Vorhang offen, Georg gab dem Mann
ein Geldstück; sie waren im Freien. Straßenlichter glänzten auf, Geräusche
von Wagen und Rolläden waren nah, Georg fühlte, wie ein feiner Schleier
zerriß, den der Kirchendämmer um ihn und sie gewoben hatte, und in
befreitem Ton schlug er eine kleine Spazierfahrt vor. Anna war gern
einverstanden. In einem offenen Fiaker, dessen Dach sie über sich aufspannen
ließen, fuhren sie die Straße hinab, ließen sich um den Ring führen, ohne viel
von Gebäuden und Gärten zu sehen, sprachen kein Wort und schmiegten sich
enger aneinander. Sie fühlten jeder die eigne und des andern Ungeduld und
wußten, daß es kein Zurück mehr gab.
In der Nähe von Annas Wohnung sagte Georg: »Wie schade, daß du schon
nach Hause mußt.«
Sie zuckte die Achseln und lächelte sonderbar. Die Untiefen, dachte Georg
wieder, aber ohne Angst, heiter beinahe. Eh der Wagen an der Ecke hielt,
verabredeten sie ein Rendezvous für den nächsten Vormittag, im
Schwarzenberggarten, dann stiegen sie aus. Anna eilte nach Hause, und
Georg bummelte langsam gegen die Stadt zu.
Er überlegte, ob er ins Kaffeehaus gehen sollte. Er hatte keine rechte Lust
dazu. Bermann blieb heute wohl bei Ehrenbergs zum Souper, auf Leo
Golowskis Kommen war nur selten zu rechnen; und die andern jungen Leute,
meist jüdische Literaten, die Georg in der letzten Zeit flüchtig kennen gelernt
hatte, lockten ihn nicht eben an, wenn er auch manche von ihnen nicht
uninteressant gefunden hatte. Im ganzen fand er den Ton der jungen Leute
untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu
pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer sich selbst mit
Unbefangenheit zu geben. Heinrich hatte übrigens neulich erklärt, er wollte
mit dem ganzen Kreis nichts mehr zu tun haben, der ihm seit seinen Erfolgen
durchaus gehässig gesinnt sei. Georg hielt es allerdings für möglich, daß
Heinrich in seiner eiteln und hypochondrischen Art Feindseligkeiten und
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik