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Verfolgungen auch dort witterte, wo vielleicht nur Gleichgültigkeit oder
Antipathie vorhanden waren. Er für seinen Teil wußte, daß es weniger
Freundschaft war, die ihn zu dem jungen Schriftsteller hinzog, als Neugier,
einen seltsamen Menschen näher kennen zu lernen; vielleicht auch das
Interesse, in eine Welt hineinzuschauen, die ihm bisher ziemlich fremd
geblieben war. Denn während er selbst nach wie vor sich ziemlich
zurückhaltend verhalten und insbesondere über seine Beziehungen zu Frauen
jede Andeutung vermieden, hatte ihm Heinrich nicht nur von der fernen
Geliebten erzählt, für die er Qualen der Eifersucht zu leiden behauptete,
sondern auch von einer hübschen, blonden Person, mit der er in der letzten
Zeit seine Abende zu verbringen pflegte, – um sich zu betäuben, wie er mit
Selbstironie hinzufügte; nicht nur von seinen Wiener Studenten- und
Journalistenjahren, die noch nicht weit zurücklagen, sondern auch von der
Kinder- und Knabenzeit in der kleinen böhmischen Provinzstadt, wo er vor
dreißig Jahren zur Welt gekommen war. Sonderbar und zuweilen fast peinlich
erschien Georg der wie aus Zärtlichkeit und Widerwillen, aus Gefühlen von
Anhänglichkeit und von Losgerissensein gemischte Ton, in dem Heinrich von
den Seinen, insbesondere von dem kranken Vater sprach, der in jener kleinen
Stadt Advokat, und eine Zeitlang Reichsratsabgeordneter gewesen war. Ja, er
schien sogar ein wenig stolz darauf zu sein, daß er als Zwanzigjähriger schon
dem allzu Vertrauensseligen sein Schicksal vorausgesagt hatte, genau so wie
es sich später erfüllen sollte: nach einer kurzen Epoche der Beliebtheit und
des Erfolgs hatte das Anwachsen der antisemitischen Bewegung ihn aus der
deutsch-liberalen Partei gedrängt, die meisten Freunde hatten ihn verlassen
und verraten, und ein verbummeltet Kouleurstudent, der in den
Versammlungen die Tschechen und Juden als die gefährlichsten Feinde
deutscher Zucht und Sitte hinstellte, daheim seine Frau prügelte und seinen
Mägden Kinder machte, war sein Nachfolger im Vertrauen der Wähler und im
Parlament geworden. Heinrich, dem die Phrasen des Vaters von Deutschtum,
Freiheit, Fortschritt in all ihrer Ehrlichkeit immer gegen den Strich gegangen
waren, hatte dem Niedergang des alternden Mannes anfangs wie mit
Schadenfreude zugesehen; allmählich erst, als der einst gesuchte Anwalt auch
seine Klienten zu verlieren begann, und die materiellen Verhältnisse der
Familie sich von Tag zu Tag verschlechterten, stellte bei dem Sohne sich ein
verspätetes Mitleid ein. Er hatte seine juristischen Studien früh genug
aufgegeben und mußte den Seinen durch journalistische Tagesarbeit zu Hilfe
kommen. Seine ersten künstlerischen Erfolge fanden in dem verdüsterten
Hause der Heimat kein Echo mehr. Dem Vater nahte unter schweren Zeichen
der Wahnsinn, und der Mutter, für die gleichsam Staat und Vaterland zu
existieren aufgehört hatten, als ihr Mann nicht wieder ins Parlament gewählt
wurde, versank nun, da dieser in geistige Nacht fiel, die ganze Welt. Die
einzige Schwester Heinrichs, einst ein blühendes und tüchtiges Geschöpf, war
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik