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ihnen Platz nehmen.«
Was will er eigentlich, dachte Georg bei sich. Wäre es ihm sympathischer,
wenn hier eine Gesellschaft von polnischen Juden säße und Psalmen sänge?
Beide schoben ihre Räder zu einem entferntem Tische hin und ließen sich
nieder. Ein Kellner erschien, in schwarzem, von Fett- und Gemüseflecken
übersäten Frack, fegte mit einer schmutzigen Serviette heftig über den Tisch,
nahm die Bestellungen entgegen und verschwand.
»Ist es nicht jämmerlich«, sagte Heinrich, »daß in der nächsten Umgebung
von Wien beinahe überall so verwahrloste Wirtshäuser stehen? Es macht
einen geradezu trübsinnig.«
Georg fand diese übertriebene Wehmut nicht angebracht. »Ach Gott, auf
dem Land«, meinte er, »man nimmt es eben mit. Es gehört fast dazu.«
Heinrich ließ diese Auffassung nicht gelten, begann den Plan zur Gründung
von sieben Hotels an den Wienerwaldgrenzen zu entwickeln und berechnete
eben, daß man dazu höchstens drei bis vier Millionen benötige, als plötzlich
Leo Golowski dastand. Er war im Zivilanzug, der, wie oft bei ihm, eines
etwas bizarren Elements nicht entbehrte. Heute trug er zu einem hellgrauen
Sacco eine blaue Samtweste und eine gelbliche Seidenkrawatte in glattem
Stahlring. Die beiden andern begrüßten ihn erfreut und äußerten einige
Überraschung.
Leo setzte sich zu ihnen: »Ich habe ja gehört«, sagte er, »wie Sie gestern
Abend Ihre Partie verabredet haben, und als wir heute schon um neun aus der
Kaserne entlassen wurden, dacht ich mir gleich, es wäre doch hübsch mit
zwei klugen, sympathischen Menschen eine Stunde im Freien zu
verplauschen. So bin ich nach Haus, hab mich in Zivil geworfen und auf den
Weg gemacht.« Er sagte das in seinem gewöhnlichen, liebenswürdigen, fast
naiv klingenden Ton, der Georg immer wieder gefangen nahm, aber in der
Erinnerung für ihn einen Beiklang von Ironie, ja von Falschheit zu bekommen
pflegte. Doch schien dieser gleichsam schillernde Klang Leos Worten nur in
gleichgültiger Unterhaltung eigen; ernste Gespräche wußte er mit einer
Bestimmtheit zu führen, die Georg geradezu imponierte. In der letzten Zeit
hatte er einigemale Gelegenheit gehabt, im Kaffeehaus Diskussionen
zwischen Leo und Heinrich über kunsttheoretische Fragen, insbesondere über
die Beziehungen zwischen den Gesetzen der Musik und der Mathematik
anzuhören. Leo glaubte der Ursache auf der Spur zu sein, aus der Dur- und
Molltonarten die menschliche Seele in so verschiedener Weise berührten.
Gerne folgte Georg seinen klaren und scharfsinnigen Auseinandersetzungen,
wenn sich auch etwas in ihm gegen den verwegenen Versuch wehrte, allen
Zauber und alles Geheimnis der Klänge aus dem Walten von Gesetzen
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik