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»Wie würden Sie es denn bezeichnen?«
Leo zuckte die Achseln und blickte Georg ruhig an. »Sehen Sie«, sagte er,
»ich habe die Stimme auch immer sehr sympathisch gefunden, aber selbst zur
Zeit, als Anna die Idee hatte zur Bühne zu gehen… ehrlich gestanden, ich
habe nie geglaubt, daß aus der Sache was wird.«
»Sie haben eben wahrscheinlich gewußt«, entgegnete Georg absichtlich
leicht, »daß Fräulein Anna an dieser eigentümlichen Schwäche der
Stimmbänder leidet.«
»Ja freilich wußt ich das; aber wäre sie zu einer künstlerischen Laufbahn
bestimmt gewesen, innerlich bestimmt meine ich, so hätte sie diese Schwäche
eben überwunden.«
»Sie glauben?«
»Ja, das glaub ich, das glaub ich ganz entschieden. Darum find ich, daß
solche Worte wie ›eigentümliche Schwäche‹, oder ›die Stimme reicht nicht
aus‹ gewissermaßen Umschreibungen für etwas Tieferes, Seelisches
bedeuten. Es liegt offenbar nicht in der Linie ihres Schicksals, eine Künstlerin
zu werden, das ist es. Sie war sozusagen von Anbeginn dazu bestimmt, im
Bürgerlichen zu enden.«
Heinrich war mit der Theorie von der Schicksalslinie höchst einverstanden
und führte den Gedanken in seiner krausen Art weiter und immer weiter, vom
Geistreichen übers Verdrehte ins Unsinnige. Dann machte er den Vorschlag,
man sollte sich für eine halbe Stunde auf die Wiese hin in die Sonne legen,
die in diesem Jahr wohl nicht mehr oft so warm herunterscheinen werde. Die
andern stimmten zu.
Hundert Schritt weit vom Wirtshaus streckten sich Georg und Leo auf ihre
Mäntel aus. Heinrich setzte sich ins Gras, verschränkte die Arme über den
Knien und sah vor sich hin. Zu seinen Füßen senkte sich die Wiese zum
Walde hinab. Tiefer unten, in lockeres Laub vergraben, ruhten die Landhäuser
von Neuwaldegg. Aus bläulich-grauen Nebeln hervor schimmerten die
Turmkreuze und sonngeblendeten Fenster der Stadt, und ganz fern, als trüge
bewegter Dunst sie empor, schwebte und verdämmerte die Ebene.
Spaziergänger schritten über die Wiese dem Wirtshaus zu. Einige grüßten
im Vorübergehen und einer, ein noch junger Mann, der ein Kind an der Hand
führte, bemerkte zu Heinrich: »Das ist aber einmal ein schöner Tag, grad als
wie im Mai.«
Heinrich fühlte anfangs gegen seinen Willen, wie manchmal solch
wohlfeiler, aber unvermuteter Freundlichkeit gegenüber, gleichsam sein Herz
aufgehen. Sofort aber besann er sich, denn er wußte ja, auch dieser junge
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik