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die Ihrigen.«
»Sie dürfen mir nicht böse sein«, erwiderte Leo, »aber Ihr Blick in diesen
Dingen ist doch ein wenig beschränkt. Sie denken immer an sich und an den
nebensächlichen Umstand… pardon für diese Frage nebensächlichen
Umstand, daß Sie ein Dichter sind, der zufällig, weil er in einem deutschen
Land geboren, in deutscher Sprache und, weil er in Österreich lebt, über
österreichische Menschen und Verhältnisse schreibt. Es handelt sich aber in
erster Linie gar nicht um Sie und auch nicht um mich, auch nicht um die paar
jüdischen Beamten, die nicht avancieren, die paar jüdischen Freiwilligen, die
nicht Offiziere werden, die jüdischen Dozenten, die man nicht oder verspätet
zu Professoren macht, – das sind lauter Unannehmlichkeiten zweiten Ranges
sozusagen; es handelt sich hier um ganz andre Menschen, die Sie nicht genau
oder gar nicht kennen, und um Schicksale, über die Sie, ich versichere Sie,
lieber Heinrich, über die Sie gewiß, trotz der Verpflichtung, die Sie eigentlich
dazu hätten, noch nicht gründlich genug nachgedacht haben. Gewiß nicht…
sonst könnten Sie über all diese Dinge nicht in so oberflächlicher und in so…
egoistischer Weise reden, wie Sie es tun.« Er erzählte dann von seinen
Erlebnissen auf dem Basler Zionistenkongreß, an dem er im vorigen Jahre
teilgenommen hatte und wo ihm ein tieferer Einblick in das Wesen und den
Gemütszustand des jüdischen Volkes gewährt worden wäre als je zuvor. In
diese Menschen, die er zum erstenmal in der Nähe gesehen, war die
Sehnsucht nach Palästina, das wußte er nun, nicht künstlich hineingetragen; in
ihnen wirkte sie als ein echtes, nie erloschenes und nun mit Notwendigkeit
neu aufflammendes Gefühl. Daran konnte keiner zweifeln, der, wie er, den
heiligen Zorn in ihren Blicken hatte aufleuchten sehen, als ein Redner
erklärte, daß man die Hoffnung auf Palästina vorläufig aufgeben und sich mit
Ansiedlungen in Afrika und Argentinien begnügen müsse. Ja, alte Männer,
nicht etwa ungebildete, nein, gelehrte, weise Männer hatte er weinen gesehen,
weil sie fürchten mußten, daß das Land ihrer Väter, das sie, auch bei
Erfüllung der kühnsten zionistischen Pläne, doch keineswegs mehr selbst
hätten betreten können, sich vielleicht auch ihren Kindern und Kindeskindern
niemals erschließen würde.
Verwundert, ja ein wenig ergriffen hatte Georg zugehört. Heinrich aber, der
während Leos Erzählung mit kurzen Schritten auf der Wiese hin und
hergegangen war, erklärte, daß ihm der Zionismus als die schlimmste
Heimsuchung erschiene, die jemals über die Juden hereingebrochen war, und
gerade Leos Worte hätten ihn davon tiefer überzeugt, als irgend eine
Überlegung oder Erfahrung zuvor. Nationalgefühl und Religion, das waren
seit jeher Worte, die in ihrer leichtfertigen, ja tückischen Vieldeutigkeit ihn
erbitterten. Vaterland… das war ja überhaupt eine Fiktion, ein Begriff der
Politik, schwebend, veränderlich, nicht zu fassen. Etwas Reales bedeutete nur
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik