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die Heimat, nicht das Vaterland… und so war Heimatsgefühl auch
Heimatsrecht. Und was die Religionen anbelangte, so ließ er sich christliche
und jüdische Legenden so gut gefallen, als hellenische und indische; aber jede
war ihm gleich unerträglich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen
aufzudrängen suchte. Und zusammengehörig fühlte er sich mit niemandem,
nein mit niemandem auf der Welt. Mit den weinenden Juden in Basel gerade
so wenig, als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen Parlament;
mit jüdischen Wucherern so wenig, als mit hochadeligen Raubrittern; mit
einem zionistischen Branntweinschänker so wenig, als mit einem christlich-
sozialen Greisler. Und am wenigsten würde ihn je das Bewußtsein gemeinsam
erlittener Verfolgung, gemeinsam lastenden Hasses mit Menschen verbinden,
denen er sich innerlich fern fühle. Als moralisches Prinzip und als
Wohlfahrtsaktion wollte er den Zionismus gelten lassen, wenn er sich
aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee einer Errichtung des Judenstaates auf
religiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie eine unsinnige
Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung. »Und in der
Tiefe Ihrer Seele«, rief er aus, vor Leo stehen bleibend, »glauben auch Sie
nicht daran, daß dieses Ziel je zu erreichen sein wird, ja wünschen es nicht
einmal, wenn Sie sich auch auf dem Wege hin aus dem oder jenem Grunde
behagen. Was ist Ihnen Ihr ›Heimatland‹ Palästina? Ein geographischer
Begriff. Was bedeutet Ihnen ›der Glaube Ihrer Väter‹? Eine Sammlung von
Gebräuchen, die Sie längst nicht mehr halten und von denen Ihnen die
meisten gerade so lächerlich und abgeschmackt vorkommen, als mir.«
Sie redeten noch lang, bald heftig und beinahe feindselig, dann wieder
ruhig und in dem ehrlichen Bestreben einander zu überzeugen; fanden sich
manchmal wie erstaunt in einer gleichen Ansicht, um einander im nächsten
Augenblick in einem neuen Widerspruch zu verlieren. Georg, auf seinen
Mantel gestreckt, hörte ihnen zu. Bald neigte sein Sinn sich Leo zu, in dessen
Worten ihm ein glühendes Mitleid für seine unglücklichen Stammesgenossen
zu beben schien, und der sich stolz von Menschen abkehrte, die ihn als
ihresgleichen nicht wollten gelten lassen. Bald wieder war er innerlich
Heinrich näher, der sich zornig von einem Beginnen abwandte, das,
phantastisch und kurzsichtig zugleich, die Angehörigen einer Rasse, deren
Beste überall in der Kultur ihres Wohnlandes aufgegangen waren, oder
mindestens an ihr mitarbeiteten, von allen Enden der Welt versammeln und in
eine gemeinsame Fremde senden wollte, nach der sie kein Heimweh rief. Und
eine Ahnung stieg in Georg auf, wie schwer gerade diesen Besten, von denen
Heinrich sprach, denen, in deren Seelen sich die Zukunft der Menschheit
vorbereitete, eine Entscheidung fallen mußte; wie gerade ihnen, hin und
hergeworfen zwischen der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der
Erbitterung über die Zumutung, einer frechen Überzahl weichen zu sollen, –
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik