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nicht abzusehen, wofür er sich am Ende entscheiden würde. Da es in seiner
Art lag, unbewußt auf Wunder zu warten, die ihm Unbequemlichkeiten
ersparen konnten, hatte er sein Freiwilligenjahr so lang verschoben, bis der
letzte Termin herangerückt war, und diente darum erst jetzt, in seinem
fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Die Eltern ließen Leo und Therese
gewähren, und so viel Meinungsverschiedenheiten, so wenig ernstlichen
Streit schien es im Hause Golowski zu geben. Die Mutter saß meistens
daheim, nähte, stickte und häkelte, der Vater ging seinen Geschäften immer
saumseliger nach und sah lieber im Kaffeehaus den Schachspielern zu, ein
Vergnügen, in dem er den Niedergang seines Daseins zu vergessen
vermochte. Seinen Kindern gegenüber schien er seit dem Ruin des Geschäftes
eine gewisse Befangenheit nicht los zu werden, so daß er beinahe stolz war,
wenn Therese ihm gelegentlich einen von ihr verfaßten Artikel zu lesen gab,
oder wenn Leo sich herbeiließ, mit ihm am Sonntag Nachmittag eine Partie
auf dem geliebten Brett zu spielen.
Georg kam es manchmal vor, als stünde seine eigene Sympathie für Leo
mit jener längst verflossenen Neigung Annas für ihn in einem tiefern
Zusammenhang. Denn nicht zum ersten Male fühlte er sich in ganz
sonderbarer Weise zu einem Manne hingezogen, dem früher eine Seele
zugeflogen war, die jetzt ihm gehörte.
Georg und Heinrich hatten ihre Räder bestiegen und fuhren eine schmale
Straße, durch dichten, dunkelnden Wald. Später, da dieser sich wieder zu
beiden Seiten zurückschob, hatten sie die sinkende Sonne im Rücken, und die
langgestreckten Schatten ihrer eigenen Gestalten auf den Rädern liefen ihnen
voraus. Entschiedener senkte sich die Straße und führte bald zwischen niedern
Häusern hin, die von rötlichem Laub überhangen waren. Ein uralter Mann saß
vor einer Haustür auf einer Bank, zu einem offenen Fenster sah ein bleiches
Kind heraus. Sonst war kein menschliches Wesen zu sehen.
»Wie ein verzaubertes Dorf«, sagte Georg.
Heinrich nickte. Er kannte den Ort. Auch hier war er mit der Geliebten
gewesen, an einem wundervollen Sommertag dieses Jahres. Er dachte daran,
und brennende Sehnsucht zuckte ihm durchs Herz. Und er erinnerte sich der
letzten Stunden, die er in Wien mit ihr gemeinsam verbracht hatte, in seinem
kühlen Zimmer, mit den herabgelassenen Jalousien, durch deren Spalten der
heiße Augustmorgen geflimmert war; des letzten Spazierganges durch
steinernkühle sonntagsstille Gassen und durch alte, menschenleere Höfe, –
und seiner Ahnungslosigkeit, daß all dies zum letzten Male war. Denn am
nächsten Tag erst war der Brief gekommen, der furchtbare Brief, in dem es
geschrieben stand, daß sie ihm den Schmerz des Abschieds hatte ersparen
wollen, und daß sie, wenn er diese Worte läse, längst über die Grenze sei, auf
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik