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das Gespräch der beiden, durch das eigene Gefühl dieser Fremdheit sich so
deutlich bewußt geworden wäre. Er zweifelte daran. Fühlte er sich nicht
gerade diesen beiden und manchen andern ihres Volkes näher, ja verwandter,
als vielen Menschen, die mit ihm vom gleichen Stamme waren? Ja spürte er
nicht ganz deutlich, daß manchmal irgendwo in die Tiefe zwischen ihm und
diesen beiden stärkere Fäden liefen, als von ihm zu Guido, ja vielleicht zu
seinem eigenen Bruder? Aber wenn es so war, hätte er das nicht diesen beiden
Menschen heute Nachmittag in irgendeinem Augenblick sagen müssen?
Ihnen zurufen: vertraut mir doch, schließt mich nicht aus. Versucht es doch,
mich für einen Freund zu halten!… Und als er sich fragte, warum er das nicht
getan und an ihrem Gespräch kaum teilgenommen hatte, da ward er mit
Verwunderung inne, daß er während dessen ganzer Dauer eine Art von
Schuldbewußtsein nicht los geworden war, gerade so als wäre auch er sein
Lebenlang von einer gewissen leichtfertigen und durch persönliche Erfahrung
gar nicht gerechtfertigten Feindseligkeit gegen die »Fremden«, wie Leo selbst
sie nannte, nicht frei gewesen und so sein Teil zu dem Mißtrauen und dem
Trotz beigetragen, mit dem so manche sich vor ihm verschlossen, denen
entgegenzukommen er selbst Anlaß und Neigung fühlen mochte. Dieser
Gedanke erregte ihm ein wachsendes Unbehagen, das er sich nicht recht
deuten konnte, und das nichts andres war, als die dumpfe Einsicht, daß reine
Beziehungen auch zwischen einzelnen reinen Menschen in einer Atmosphäre
von Torheit, Unrecht und Unaufrichtigkeit nicht gedeihen können.
Immer schneller, als gälte es diesem Unbehagen zu entfliehen, fuhr er
heimwärts. Zu Hause angekommen, kleidete er sich rasch um, damit Anna
nicht allzulange warten müsse. Er sehnte sich nach ihr wie noch nie. Es war
ihm, als käme er von einer weiten Reise heim, zu dem einzigen Wesen, das
ihm ganz gehörte.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik