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berühmten Wiener Tänze und Lieder, und Georg hatte wie immer viel Freude
an den süßen, wiegenden Melodien.
»Herrlich«, sagte Frau Ehrenberg, als der Alte sich erhob.
»Bewahren Sie sich die großen Worte für größere Gelegenheiten, Leonie«,
erwiderte Eißler, dessen altes Vorrecht es war, alle Frauen und Mädchen bei
ihren Vornamen zu nennen. Und es schien jeder wohl zu tun, ihn von diesem
schönen alten Mann, mit der tiefen, klingenden Stimme aussprechen zu hören,
in der es manchmal bebte wie ein sentimentales Echo aus bewegten
Jugendtagen. Georg fragte ihn, ob alle seine Kompositionen im Druck
erschienen wären.
»Die wenigsten, lieber Baron; ich selbst kann leider keine Noten
schreiben.«
»Es wäre aber wirklich jammerschade, wenn diese charmanten Melodien
ganz verloren gehen sollten.«
»Ja, das hab ich ihm auch oft gesagt«, nahm Frau Ehrenberg das Wort.
»Aber er gehört leider zu den Menschen, die sich selber nie ganz ernst
genommen haben.«
»O, das ist ein Irrtum, Leonie. Wissen Sie denn, wie ich meine
musikalische Karriere begonnen habe? Eine große Oper hab ich komponieren
wollen. Allerdings war ich damals siebzehn Jahre alt und in eine Sängerin
rasend verliebt.«
Die Stimme der Frau Oberberger tönte vom Tische in der Ecke her: »Es
wird eine Choristin gewesen sein.«
»Sie irren sich, Katharina«, erwiderte Eißler. »Choristinnen waren nie mein
Fall. Es war sogar eine platonische Liebe, wie die meisten großen
Leidenschaften meines Lebens.«
»Waren Sie so ungeschickt?« fragte Frau Oberberger.
»Manchmal wohl auch das«, erwiderte Eißler sonor und mit Anstand;
»denn wahrscheinlich hätte ich gerade soviel Glück haben können wie ein
Husarenrittmeister. Aber ich bedaure es nicht, ungeschickt gewesen zu sein.
Ungetrübte Erinnerungen bewahren wir doch nur an versäumte
Gelegenheiten.«
Frau Ehrenberg nickte beifällig.
»Man dürfte also nicht fehlgehen, Herr Eißler«, bemerkte Nürnberger,
»wenn man in Ihrer Lebensgeschichte den getrübten Erinnerungen die
größere Rolle zuweist.« Wieder nickte Frau Ehrenberg. Sie war entzückt,
wenn man in ihrem Salon geistreich war.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik