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Festlichkeit gedeckt war. Der Sohn des Hauses fehlte. Er befand sich in
Neuhaus, in der väterlichen Fabrik. Herr Ehrenberg selbst aber saß plötzlich
bei Tisch, als das Souper aufgetragen war. Erst kürzlich war er von seiner
Reise heimgekehrt, die ihn tatsächlich bis Palästina geführt hatte. Als er von
Hofrat Wilt nach seinen Erlebnissen gefragt wurde, wollte er zuerst nicht
recht mit der Sprache heraus. Endlich ergab sich, daß ihn die Landschaft
enttäuscht, die Strapazen der Reisen verstimmt, und daß er von den jüdischen
Ansiedlungen, die sicherm Vernehmen nach im Entstehen waren, so gut wie
nichts gesehen hatte. »Also wir haben begründete Hoffnung«, bemerkte
Nürnberger, »Sie hier zu behalten, selbst für den Fall, daß der Judenstaat im
Laufe der nächsten Zeit gegründet werden sollte?«
Unwirsch erwiderte Ehrenberg: »Hab ich Ihnen je gesagt, daß ich die
Absicht habe auszuwandern? Ich bin zu alt dazu.«
»Ach so«, sagte Nürnberger, »ich wußte nicht, daß Sie sich die Gegend
drüben nur Fräulein Else und Herrn Oskar zuliebe angesehen haben.«
»Lieber Nürnberger, ich werd mich da nicht mit Ihnen streiten. Der
Zionismus ist auch wahrhaftig zu gut für ein Tischgespräch.«
»Ob zu gut«, sagte Hofrat Wilt, »wollen wir dahingestellt sein lassen,
jedenfalls zu kompliziert, schon darum weil jeder was anderes darunter
versteht.«
»Oder verstehen will«, fügte Nürnberger hinzu, »wie es übrigens mit den
meisten Schlagworten und nicht nur in der Politik der Fall ist. Darum wird ja
auf Erden so viel geschwätzt.«
Heinrich erklärte, daß ihm unter allen menschlichen Geschöpfen der
Politiker gewissermaßen die rätselhafteste Erscheinung bedeute. »Ich begreife
Taschendiebe«, sagte er, »Akrobaten, Bankdirektoren, Hoteliers, Könige…
das heißt, ohne besondere Mühe gelingt es mir, mich in die Seelen aller dieser
Leute hineinzuversetzen. Daraus folgt offenbar, daß es nur gewisser
quantitativer, wenn auch ungeheurer Veränderungen meines Wesens bedürfte,
um mich zu befähigen, in der Welt eine Akrobaten-, eine Königs-, eine
Bankdirektorsrolle zu spielen. Dagegen fühl ich untrüglich: ich könnte mein
Wesen ins Ungemessene steigern, und es würde doch nie das aus mir, was
man einen Politiker nennt: ein Parteiführer, ein Genosse, ein Minister.«
Nürnberger lächelte über die Auffassung Heinrichs, nach der der Politiker
eine besondere Menschenart bedeuten sollte, während es doch nur zu den
äußern, nicht einmal unumgänglichen Erfordernissen seines Berufes gehörte,
sich als besondere Menschenart aufzuspielen, seine Größe oder seine
Nichtigkeit, seine Taten oder seine Trägheit hinter Titeln, Abstrakten,
Symbolen zu verstecken. Was die Unbeträchtlichen oder Schwindelhaften
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik