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Male flüchtig gesprochen hatte, in Smoking mit Samtkragen, aber mit einer
Hemdbrust von zweifelhafter Reinheit. Als Georg herzutrat, sah der junge
Mensch eben mit glühenden Augen von einem Heftchen auf, das er in
unruhigen, nicht sehr gepflegten Händen hielt.
»O ich störe«, sagte Georg.
»Durchaus nicht«, erwiderte der junge Mann mit irrsinnigem Lachen. »Je
mehr Publikum, je lieber.«
»Herr Winternitz«, erklärte Heinrich, während er Georg die Hand reichte,
»liest mir eben einen Gedichtenzyklus vor. Wir werden’s vielleicht für
diesmal unterbrechen.«
Georg, von dem enttäuschten Blick des jungen Mannes ein wenig gerührt,
behauptete, daß er mit Vergnügen zuhören möchte, wenn es gestattet sei.
»Es dauert auch nicht mehr lange«, erklärte Winternitz dankbar. »Nur
schade, daß Sie den Anfang versäumt haben. Ich könnte… «
»Ja, ist es denn zusammenhängend?« fragte Heinrich erstaunt.
»Wie, das haben Sie nicht bemerkt?« rief Winternitz und lachte wieder
irrsinnig.
»Ach so«, sagte Heinrich, »das ist immer dieselbe Frauensperson, von der
Ihre Gedichte handeln? Ich glaubte, es sei immer eine andere.«
»Natürlich ist es immer dieselbe. Das ist ja das Charakteristische, daß sie
immer wie eine neue Person wirkt.«
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt. Aus
seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein Mensch vor
ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen
metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit
zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig befreit
von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle Freuden zu
genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht hatte vier Strophen,
der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem »Hei«, und es schloß mit dem
Ausruf: »Hei, so jag ich durch die Welt.«
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen
Eindruck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit
übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte: »Sehr
schön.«
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden schwieg
und endlich bemerkte: »Es ist im ganzen sehr interessant… aber warum sagen
Sie ›hei‹, wenn ich fragen darf? Es glaubt’s Ihnen ja doch niemand.«
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik