Seite - 119 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 119 -
Text der Seite - 119 -
offenbar so, daß durch das Bewußtsein des Verstehens das Gefühl der
Fremdheit in gewissem Sinn wieder aufgehoben wird. Ja, es wird gleichsam
durchtränkt von Stolz, Herablassung, Zärtlichkeit, löst sich auf, – allerdings
auch zuweilen in Sentimentalität, was ja wieder eine schlimme Sache ist.« Er
saß da, mit tiefen Falten in der Stirn und sah vor sich hin.
Versteht er mich wirklich besser, dachte Georg, als ich ihn? Oder ist es
wieder nur Größenwahn –?
Heinrich fuhr plötzlich auf, wie aus einem Traum. Er sah auf die Uhr.
»Halb drei! Und morgen früh um acht geht mein Zug.«
»Wie, Sie reisen fort?«
»Ja. Darum wollt ich Sie auch noch so gern sprechen. Ich werd’ Ihnen
leider auf längere Zeit adieu sagen müssen. Ich fahre nach Prag. Ich bringe
meinen Vater aus der Anstalt nach Hause, in seine Heimat.«
»Es geht ihm also besser?«
»Nein. Er ist nur in dem Stadium, wo er für die Umgebung ungefährlich
geworden ist… Ja, das ist auch recht rasch gekommen.«
»Und wann ungefähr denken Sie wieder zurück zu sein?«
Heinrich zuckte die Achseln. »Das läßt sich heute noch nicht sagen. Aber
wie immer sich die Sache weiterentwickelt, keineswegs kann ich Mutter und
Schwester jetzt allein lassen.«
Georg verspürte ein wirkliches Bedauern, Heinrichs Gesellschaft in der
nächsten Zeit entbehren zu sollen. »Es wäre möglich, daß Sie mich in Wien
nicht mehr antreffen, wenn Sie zurückkommen. Ich werde in diesem Frühjahr
nämlich wahrscheinlich auch fortfahren.« Und er fühlte beinahe Lust, sich
Heinrich anzuvertrauen.
»Sie reisen wohl in den Süden?« fragte Heinrich.
»Ja ich denke. Einmal noch meine Freiheit genießen. Ein paar Monate lang.
Im nächsten Herbst fängt nämlich der Ernst des Lebens an. Ich sehe mich um
eine Stellung in Deutschland um, an irgendeinem Theater.«
»Also wirklich?«
Der Kellner war an den Tisch gekommen, sie zahlten und gingen. An der
Tür trafen sie mit Rapp und Gleißner zusammen. Ein paar Worte der
Begrüßung wurden gewechselt.
»Was treiben Sie immer, Herr Rapp?« fragte Georg verbindlich.
Rapp wischte seinen Zwicker ab. »Immer mein altes, trauriges Handwerk.
119
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik