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neulich in seiner Gesellschaft verspätet und mit einer Ausrede hatte nach
Hause eilen müssen. Ob er nicht fürchte, hatte sie gefragt, es einmal bereuen
zu müssen, daß er sie zur Lügnerin machte? Halb wie ein Vorwurf, halb wie
eine Warnung hatte es geklungen. Und wenn sie selbst ihrer so wenig sicher
schien, durfte er ihr ohne weiteres vertrauen? Liebte er sie nicht auch – und
betrog er sie nicht trotzdem, oder war in jedem Augenblick bereit dazu, was
am Ende dasselbe bedeutete? Vor einer Stunde im Wagen, als er sie in den
Armen hielt und küßte, hatte sie gewiß nicht geahnt, daß er einen andern
Gedanken hatte als sie. Und doch, in irgendeinem Augenblick, seine Lippen
auf den ihren, hatte er sich nach Sissy gesehnt. Warum sollte es nicht
geschehen können, daß Anna ihn betrog?… . Am Ende schon geschehen
sein… ohne daß er es ahnte?.. Aber all diese Einfälle waren gleichsam ohne
Schwere. Wie phantastische, beinahe amüsante Möglichkeiten schwebten sie
durch den Sinn. Er stand mit Heinrich vor dem geschlossenen Haustor in der
Florianigasse und reichte ihm die Hand. »Also leben Sie wohl«, sagte er,
»wenn wir uns wiedersehen, sind Sie hoffentlich von Ihren Zweifeln geheilt.«
»Wäre das ein besonderer Gewinn?« fragte Heinrich. »Kann man sich denn
in Liebessachen mit Gewißheiten beruhigen? Höchstens mit schlimmen, denn
die sind für die Dauer. Aber eine gute Gewißheit ist bestenfalls ein Rausch…
Nun grüß Sie Gott. Im Mai sehen wir uns hoffentlich wieder. Da komm ich,
was immer geschehen sein mag, auf einige Zeit her, und da können wir auch
über unsere famose Oper weiterreden.«
»Ja, wenn ich im Mai schon wieder in Wien bin. Es könnte sein, daß ich
erst im Herbst zurückkomme.«
»Und dann gleich wieder fort in Ihren neuen Beruf?«
»Es wäre nicht unmöglich, daß es sich so fügt.« Und er sah Heinrich ins
Auge mit einer Art von kindlich-trotzigem Lächeln: Ich sag dir’s ja doch
nicht!
Heinrich schien befremdet. »Hören Sie, Georg, da stehen wir ja vielleicht
zum letztenmal zusammen vor diesem Tor. O, ich bin fern davon, mich in Ihr
Vertrauen einzudrängen. Es wird wohl bei diesem etwas einseitigen Verhältnis
zwischen uns bleiben müssen. Na – tut nichts.«
Georg sah vor sich hin.
»Der Himmel beschütze Sie«, sagte Heinrich, als das Tor sich auftat. »Und
lassen Sie gelegentlich von sich hören.«
»Gewiß«, erwiderte Georg und sah plötzlich Heinrichs Augen mit einem
unerwarteten Ausdruck von Innigkeit auf sich ruhen. »Gewiß… und Sie
müssen mir auch schreiben. Jedenfalls geben Sie mir Nachricht, wie es bei
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik