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verschlissenen billigen Teppichen auf den Fußböden, schmalen Holzbetten,
zerbrochenen oder blinden Spiegeln. »Im Frühjahr wird alles neu
hergerichtet«, erklärte die Hausmeisterin, »da schaut’s dann sehr freundlich
aus.« Das kleine Kind streckte plötzlich die Händchen nach Georg aus, als
wenn es von ihm auf den Arm genommen werden wollte. Georg war ein
wenig gerührt und lächelte verlegen.
Während er mit Nürnberger auf der Plattform der Tramway in die Stadt
fuhr und mit ihm plauderte, hatte er die Empfindung, daß er ihm bei den
vielen früheren Gelegenheiten ihres Zusammenseins nicht so nahe gekommen
war, als während dieser hellen Wintersonnenstunde auf dem Lande. Beim
Abschied ergab es sich ganz ungezwungen, daß sie sich für einen der
nächsten Tage zu einem neuen Spaziergang verabredeten, und so kam es, daß
Georg bei seiner weitern Wohnungssuche in der Umgegend Wiens etliche
Male von Nürnberger begleitet wurde. Dabei wurde immer die Fiktion
gewahrt, als suchte Georg für die befreundete Familie, als glaubte Nürnberger
daran, und als glaubte Georg, daß Nürnberger daran glaubte.
Auf diesen Wanderungen kam Nürnberger manchmal dazu, von seiner
Jugend zu sprechen, von den Eltern, die er sehr früh verloren hatte, von einer
Schwester, die jung gestorben und von seinem ältern Bruder, dem einzigen
seiner Verwandten, der noch am Leben war. Der aber, ein alternder
Junggeselle wie Edmund selbst, lebte nicht in Wien, sondern als
Gymnasiallehrer in einer kleinen niederösterreichischen Stadt, wohin er schon
vor fünfzehn Jahren als Supplent versetzt worden war. Später hätte er es wohl
ohne besondere Mühe erwirken können, wieder in der Großstadt angestellt zu
werden; doch nach ein paar Jahren der Verbitterung, ja des Grimms, hatte er
sich in die kleinen, ruhigen Verhältnisse seines Aufenthaltsortes so völlig
eingewöhnt, daß eine Rückkehr nach Wien ihm eher als Opfer erschienen
wäre. Und er lebte nun, seinem Beruf und insbesondre seinen Sprachstudien
mit Inbrunst hingegeben, weltfern, einsam, zufrieden, als eine Art von
Philosoph in der kleinen Stadt. Wenn Nürnberger über diesen fernen Bruder
sprach, so war es Georg manchmal, als hörte er ihn über einen Verstorbenen
reden, so völlig schien jede Möglichkeit einer künftigen dauernden
Vereinigung aufgehoben zu sein. Ganz anders, beinahe wie von einem Wesen,
das einmal wiederkehren konnte, mit einer immer wachen Sehnsucht, sprach
er von der Schwester, die seit vielen Jahren tot war.
An einem nebligen Februartag auf einer Bahnstation, während sie, den Zug
nach Wien erwartend, auf dem Perron miteinander hin und her spazierten, da
war es, daß Nürnberger Georg die Geschichte dieser Schwester erzählte, die
schon als Kind von einer ungeheuern Leidenschaft fürs Theater wie besessen,
mit sechzehn Jahren in einem kindisch-romantischen Drang, ohne Abschied
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik