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darum von meiner Reise allerlei.« Er erzählte ihm von Heinrich Bermanns
Opernstoff, der für ihn von Anregungen erfüllt sei. Wenn Heinrich wieder
zurückkäme, sollte Leo ihn doch veranlassen, den Text ernstlich in Angriff zu
nehmen.
»Wissen Sie noch nicht«, sagte Leo, »sein Vater ist gestorben.«
»Wirklich? Wann denn? Woher wissen Sies?«
»Heute früh ist es in der Zeitung gestanden.«
Sie redeten über Heinrichs Verhältnis zu dem Hingeschiedenen, und Leo
sprach aus, daß es um die Welt vielleicht besser stünde, wenn die Eltern öfter
von den Erfahrungen ihrer Kinder lernten, statt zu verlangen, daß diese sich
ihrer Altersweisheit anbequemten. Sie kamen in ein Gespräch über die
Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, über echte und falsche Arten von
Dankbarkeit, über das Sterben von geliebten Menschen, über die
Verschiedenheit von Trauer und Schmerz, über die Gefahren des Erinnerns
und die Pflichten des Vergessens. Georg fühlte, daß Leo den ernstesten
Dingen nachsann, sehr allein war, und es verstand, allein zu sein. Er liebte ihn
beinahe, als die Tür in später Abendstunde sich hinter ihm geschlossen hatte,
und der Gedanke, daß Annas erste Schwärmerei ihm gegolten, tat ihm wohl.
Noch ein paar Tage vergingen rascher als man gedacht, mit Einkäufen,
Besorgungen, Vorbereitungen aller Art. Und eines Abends fuhren Georg und
Anna nacheinander, in zwei Wagen, am Bahnhof vor und begrüßten sich
gegenseitig in der Vorhalle zum Spaß mit großer Höflichkeit, wie entfernte
Bekannte, die sich zufällig begegneten. »O mein Fräulein, was für ein
glücklicher Zufall, reisen Sie vielleicht auch nach München?« »Jawohl, Herr
Baron.« »Ei, wie trifft sich das gut. Und haben Sie etwa Schlafwagen, mein
Fräulein?« »Jawohl, Herr Baron, Bett Nummer fünf.« »Nein, wie sonderbar,
ich habe Nummer sechs.« Dann gingen sie auf dem Perron hin und her. Georg
war sehr gut aufgelegt, und es freute ihn, daß Anna in ihrem englischen Kleid
mit dem schmalkrempigen Reisehut und dem blauen Schleier aussah wie eine
interessante Fremde. Sie schritten den ganzen Zug ab, bis zur Lokomotive,
die außerhalb der Halle stand und in aufgeregten Stößen hellgrauen Dampf
zum dunkeln Himmel sandte. Draußen auf der Strecke, im matten Schein,
erglühten grüne und rote Laternen. Angstvolle Pfiffe kamen von irgendwoher
aus der Weite, und langsam aus dem Dunkel hervor ringelte ein Zug sich in
den Bahnhof. Ein rotes Licht schwankte zauberhaft auf der Erde hin und her,
schien meilenweit zu sein, und wie es stille hielt, war es mit einem Mal ganz
nah. Und draußen, schimmernd und im Unsichtbaren sich verlierend, zogen
die Gleise ihren Weg, nach Nähen und Fernen, in die Nacht, in den Morgen,
in den nächsten Tag, ins Unerforschliche.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik