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Jahren gewohnt hatte. Noch befanden sich unten die gleichen Kaufläden, in
denen Korallenhändler, Uhrmacher, Spitzenhändler ihre Waren feilhielten. Da
der zweite Stock zu vermieten war, hätte Georg ohne weiteres das Zimmer
wiedersehen können, in dem seine Mutter gestorben war. Aber er zögerte
lange, die Wohnung wieder zu betreten. Erst am Tage vor der Abreise, als
dürfte er es doch nicht versäumen, und allein, ja ohne es Anna vorher zu
sagen, betrat er das Haus, die Stiege, das Gemach. Der alt gewordene Portier
führte ihn herum und erkannte ihn nicht. Es waren noch dieselben Möbel
überall; das Schlafzimmer der Mutter sah noch genau so aus wie vor zehn
Jahren, und in der gleichen Ecke, aus braunem Holz, mit der dunkelgrünen,
silbergestickten Samtdecke, stand das gleiche Bett. Aber nichts von allem,
was Georg erwartet hatte, regte sich in ihm. Ein müdes Erinnern, seichter und
glanzloser als jemals sonst, rann ihm durch die Seele. Er verweilte lange vor
dem Bett mit dem klar bewußten Willen, die Empfindungen, zu denen er sich
verpflichtet fühlte, heraufzubeschwören. Er murmelte das Wort »Mutter«, er
versuchte sichs vorzustellen wie sie hier gelegen war, in diesem Bett, viele
Tage und Nächte lang. Er erinnerte sich der Stunden, in denen es ihr wohler
gegangen war und er ihr hatte vorlesen oder im Nebenzimmer auf dem
Klavier vorspielen dürfen, sah den kleinen runden Tisch in der Ecke stehen,
an dem der Vater und Felician ganz leise gesprochen hatten, weil die Mutter
eben eingeschlummert war; und endlich, wie eine Szene auf dem Theater, so
nah und scharf, stieg jenes furchtbaren Abends Bild in ihm auf, an dem Vater
und Bruder fortgegangen waren, er selbst ganz allein an der Mutter Lager saß,
ihre Hand in der seinen… alles sah und hörte er wieder: wie sie mit einem
Mal nach dem ruhigsten Tag sich übel befunden, wie er die Fensterflügel
aufgerissen hatte und mit der lauen Märzluft das Lachen und Reden fremder
Menschen ins Zimmer hereingedrungen war, wie sie endlich dalag, mit
offenen und schon erloschenen Augen, das Haar, das noch vor wenigen
Sekunden um Stirn und Schläfen wellig geflossen war – wirr und trocken auf
dem Polster starrte, und der linke Arm nackt über den Bettrand herunterhing
mit weit auseinander gekrampften Fingern. Mit so ungeheuerer Lebendigkeit
war dies Bild ihm aufgestiegen, daß er sein eigenes Knabenantlitz im Geiste
wiedersah und sein eigenes längst verhalltes Weinen wieder hörte… aber er
fühlte keinen Schmerz. Es war doch zu lang vorbei. Zehn Jahr beinah.
»E bellissima la vista di questa finestra«, sagte plötzlich der Portier hinter
ihm, öffnete das Fenster; – und mit einem Mal, wie an jenem längst
entschwundenen Abend, tönten Menschenstimmen von unten herauf. Und im
gleichen Augenblick hatte er die Stimme der Mutter im Ohr, so wie er sie
damals vernommen, flehend, verengend… »Georg… Georg«… und aus der
dunkeln Ecke, an der Stelle, wo damals die Kissen gelegen waren, sah er
etwas Bleiches sich entgegenschimmern. Er trat zum Fenster und
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik