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gereizt, beinahe verzweifelt; sie nannte ihn gefühllos und egoistisch. Er biß
die Lippen zusammen, erwiderte nichts mehr und ging im Zimmer hin und
her. Unversöhnt begaben sie sich in den Speisesaal, wo sie schweigend ihr
Mahl einnahmen, und gingen zu Bette, ohne einander »Gute Nacht« zu sagen.
Die nächsten Tage standen unter dem Schatten dieses Auftritts. Erst auf der
Reise nach Neapel, allein im Kupee, in der Freude an der neuen Landschaft,
durch die sie flogen, fanden sie einander wieder. Von nun an verließ er sie
beinahe keinen Augenblick mehr, sie schien ihm hilflos und ein wenig
rührend. Auf den Besuch der Museen verzichtete er, da sie ihn nicht begleiten
konnte. Sie fuhren zusammen auf dem Posilipp und in der Villa Nationale
spazieren. Auf der Wanderung durch Pompeji ging er, ein zärtlich geduldiger
Ehemann, neben ihrem Tragsessel einher, und während der Führer in
schlechtem Französisch seine Erklärungen vortrug, nahm Georg Annas Hand,
küßte sie und versuchte mit begeisterten Worten sie an dem Entzücken
teilnehmen zu lassen, das er selbst auch diesmal in der geheimnisvollen,
dächerlosen Stadt empfand, die nach zweitausendjähriger Versunkenheit
allmählich Straße für Straße, Haus für Haus dem unveränderlichen Lichte
dieses blauen Himmels entgegenrückte. Und als sie an einer Stelle Halt
machten, wo eben einige Arbeiter beschäftigt waren, mit vorsichtigen
Schaufelschlägen eine gebrochene Säule aus der Asche hervorzutreiben, wies
er Anna mit so leuchtenden Augen darauf hin, als wäre dieser Anblick ein
Geschenk, das er ihr seit langem zugedacht, und als hätte er mit allem, was
bisher geschehen, nur den Zweck verfolgt, sie in dieser Minute an diese Stelle
hinzuführen und dieses Wunder schauen zu lassen.
In einer dunkelblauen Maiennacht lagen sie in zwei Segeltuchstühlen auf
dem Verdeck des Schiffes, das sie nach Genua führte. Ein alter Franzose mit
hellen Augen, der bei der Abendmahlzeit ihr Gegenüber gewesen war, blieb
eine Weile neben ihnen stehen und machte sie auf die Sterne aufmerksam, die
wie schwere silberne Tropfen im Unendlichen hingen. Einzelne nannte er mit
Namen, höflich und verbindlich, als fühle er sich gedrungen, die funkelnden
Himmelswanderer und das junge Ehepaar miteinander bekannt zu machen.
Dann empfahl er sich und stieg in seine Kajüte hinunter. Georg aber dachte an
seine einsame Fahrt auf gleichem Wege unter gleichem Himmel im vorigen
Frühjahr, nach seinem Abschied von Grace. Von ihr hatte er Anna erzählt,
nicht so sehr aus einem innern Bedürfnis, als um durch das Lebendigmachen
einer bestimmten Gestalt und Nennung eines bestimmten Namens seine
Vergangenheit von dem rätselhaft Unheimlichen zu befreien, in dem sie sich
für Anna manchmal zu verlieren schien. Anna wußte von Labinskis Tod, von
Georgs Gespräch mit Grace an Labinskis Grab, von Georgs Aufenthalt mit ihr
in Sizilien, sogar ein Bild von Grace hatte er ihr gezeigt. Und doch, mit
leichtem Schauer gestand er sich ein, wie wenig Anna selbst von dieser
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik