Seite - 155 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 155 -
Text der Seite - 155 -
Epoche seines Daseins wußte, über die er sich beinahe rückhaltslos mit ihr
ausgesprochen hatte; und er empfand, wie unmöglich es war, einem andern
Wesen von einer Zeit, die es nicht miterlebt hatte, von dem Inhalt so vieler
Tage und Nächte einen Begriff zu geben, deren jede Minute von Gegenwart
erfüllt gewesen war. Er erkannte, wie wenig die kleinen Unaufrichtigkeiten,
die er sich in seinen Erzählungen manchmal zuschulden kommen ließ,
bedeuten mochten gegenüber dem unvertilgbaren Hauch der Lüge, den jede
Erinnerung aus sich selbst gebiert, auf dem kurzen Weg von den Lippen des
einen zu dem Ohr des andern. Und wenn Anna später einmal einem Freund,
einem neuen Geliebten, so ehrlich, als sie nur vermochte, von der Zeit
berichten wollte, die sie mit Georg verbracht, was konnte der am Ende
erfahren? Nicht viel mehr als eine Geschichte, wie er sie hundertmal in
Büchern gelesen: von einem jungen Geschöpf, das einen jungen Mann geliebt
hatte, mit ihm herumgereist war, Wonnen empfunden und zuweilen
Langeweile, sich mit ihm vereint gefühlt hatte und manchmal doch einsam;
und selbst wenn sie versucht hätte, von jeder Minute Rechenschaft
abzulegen… es blieb doch ein unwiderbringlich Vergangenes, und für den,
der es nicht selbst erlebt hatte, konnte Vergangenes nie Wahrheit werden.
Die Sterne glitzerten über ihnen. Annas Kopf war langsam an seine Brust
gesunken, und er stützte ihn sanft mit den Händen. Nur das leise Rauschen in
der Tiefe verriet, daß das Schiff sich weiterbewegte. Nun ging es immer dem
Morgen entgegen, der Heimat, der Zukunft. Zu klingen und zu kreisen begann
die Zeit, die so lang stumm über ihnen geruht. Georg fühlte plötzlich, daß er
sein Schicksal nicht mehr in der Hand hatte. Alles ging seinen Lauf. Und nun
spürte ers durch den ganzen Körper gleichsam bis in die Haare, daß das Schiff
unter seinen Füßen unaufhaltsam vorwärts eilte.
In Genua blieben sie nur einen Tag. Beide sehnten sich nach Ruhe, Georg
überdies auch nach seiner Arbeit. Nur noch ein paar Wochen wollten sie an
einem italienischen See verweilen, und Mitte Juni nach Hause fahren. Bis
dahin war wohl auch das Haus bereit, in dem Anna wohnen sollte. Frau
Golowski hatte ein halbes Dutzend passende entdeckt, genaue Berichte an
Anna gesandt, wartete auf die Entscheidung, suchte aber für alle Fälle noch
weiter. Von Genua reisten sie nach Mailand, doch ertrugen sie das laute Leben
der Stadt nicht mehr, und schon am nächsten Tag fuhren sie nach Lugano.
Hier waren sie nun vier Wochen lang. Und Morgen für Morgen ging Georg
den Weg, der ihn auch heute das heitere Ufer entlang, über Paradiso hinaus,
an die Straßenbiegung zu einer immer neu ersehnten Aussicht führte. Nur
noch wenige Tage des Aufenthalts standen bevor. So vortrefflich sich das
Befinden Annas von Anfang an verhalten hatte, es war an der Zeit, die Nähe
Wiens aufzusuchen, um allen Zufällen ruhig entgegensehen zu können. Die
155
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik