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Tage in Lugano erschienen Georg als die besten, die er seit seiner Abfahrt aus
Wien erlebt hatte. Und er fragte sich in manchem schönen Augenblick, ob es
nicht vielleicht die beste Zeit seines ganzen Lebens wäre, die er hier
verbrachte. Nie hatte er sich so wunschlos, in Voraussicht und Erinnerung so
beruhigt gefühlt als hier, und mit Freude sah er, daß auch Anna vollkommen
glücklich war. Erwartungsvolle Milde glänzte auf ihrer Stirn, ihre Augen
blickten heiter und klug, wie in der Zeit, da Georg um ihren Besitz geworben.
Ohne Unruhe, ohne Ungeduld, und, im Gefühl ihrer aufblühenden
Mütterlichkeit weit hinausgetragen über die Erinnerung an heimatliche
Vorurteile und über die Besorgnis vor künftigen Wirrnissen, sah sie der hohen
Stunde beglückt entgegen, da sie dem wartenden Dasein als ein beseeltes
Wesen wiedergeben sollte, was ihr Leib in einem halb unbewußten
Augenblick der Wonne eingetrunken hatte. Freudig sah Georg in ihr die
Gefährtin heranreifen, die er von Beginn an in ihr zu finden gehofft hatte, die
ihm aber im Laufe der Tage manchmal entschwunden war. In Gesprächen
über seine Arbeiten, die sie alle sorgfältig durchgesehen, über das Wesen des
Gesangs, über allgemeinere musikalische Fragen, erschloß sie ihm mehr
Wissen und Gefühl, als er je in ihr geahnt hatte. Ihm selbst, ohne daß er vieles
niederschrieb, war zumute, als schritte er innerlich vorwärts. Melodien
klangen in ihm, Harmonien kündigten sich an, und mit tiefem Verstehen
erinnerte er sich einer Bemerkung Felicians, der einmal, nachdem er
monatelang die Klinge nicht geübt, gesagt hatte: sein Arm wäre während
dieser Zeit auf gute Gedanken gekommen. So erregte ihm auch die Zukunft
keinerlei Sorgen. Er wußte, sobald er nach Wien kam, würde die ernste Arbeit
beginnen, und dann lag in freier Aussicht sein Weg vor ihm.
Längst stand Georg an der Straßenbiegung, der seine Schritte zugestrebt
hatten. Eine kurze, breite Landzunge, von niederm Gesträuch dicht
bewachsen, streckte sich von hier aus in den See, und leicht sich senkend
führte ein schmaler Weg in wenig Schritten zu einer von der Straße aus
unsichtbaren Holzbank, auf der Georg sich immer für eine kurze Weile
niederzulassen pflegte, eh er ins Hotel zurückkehrte.
Wie oft noch! dachte er heute unwillkürlich. Fünf oder sechs Male
vielleicht und dann zurück nach Wien. Und er fragte sich, was denn wohl
geschähe, wenn sie nicht zurückkehrten, wenn sie sich irgendwo in Italien,
oder in der Schweiz häuslich niederließen und mit dem Kind, im doppelten
Frieden der Natur und der Ferne sich ein neues Leben aufbauten. Was
geschähe?… Nichts. Kaum daß irgend jemand sich sonderlich wundern
würde. Und vermissen, mit Schmerz vermissen, als unersetzlich, würde
niemand weder ihn noch sie. In dieser Überlegung ward ihm eher leicht als
traurig zumute; nur verdroß es ihn, daß ihn manchmal doch eine Art
Heimweh, ja sogar von Sehnsucht nach einzelnen Menschen überkam. Und
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik