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auch jetzt, während er die Seeluft eintrank, sich von einem fremd-vertrauten
Himmel überblauen ließ, das Vergnügen des Entrückt- und Alleinseins genoß,
klopfte ihm das Herz, wenn er an die Wälder und Hügel um Wien, an die
Ringstraße, den Klub, an sein großes Zimmer mit der Aussicht auf den
Stadtpark dachte. Und es wäre ihm ein banges Gefühl gewesen, wenn sein
Kind nicht in Wien zur Welt hätte kommen sollen. Plötzlich fiel ihm ein, daß
ja heute wieder eine Nachricht von Frau Golowski da sein müsse, so wie
manche andre Nachricht aus Wien, und so beschloß er noch vor der Rückkehr
ins Hotel den Umweg über die Post zu nehmen. Denn, wie während der
ganzen Reise, ließ er sich auch hier die Briefe nicht ins Hotel senden, weil er
sich auf diese Weise freier gegenüber allen Zufälligkeiten fühlte, die von
außen kommen mochten. Man schrieb ihm nicht eben viel aus Wien. Am
meisten, bei aller Kürze, stand noch in den Briefen Heinrichs, was, wie Georg
wohl fühlte, weniger einem besonderen Mitteilungsbedürfnis des Dichters zu
danken war, als dem Umstand, daß es zu dessen Beruf gehörte, den Sätzen,
die er schrieb, Lebenshauch einzuflößen. Die Briefe Felicians waren so kühl,
als hätte er ganz jenes letzten innigeren Gespräch in Georgs Zimmer und des
Bruderkusses vergessen, mit dem sie geschieden waren… Er mochte wohl
vermuten, dachte Georg, daß seine Briefe auch von Anna gelesen wurden,
und sich nicht veranlaßt fühlen, diese fremde Dame in seine
Privatverhältnisse und Privatgefühle Einblick nehmen zu lassen. Nürnberger
hatte Georgs Kartengrüße ein paarmal kurz erwidert, und auf einen Brief aus
Rom, in dem Georg herzlich der gemeinsamen Spaziergänge im Vorfrühling
gedacht, hatte Nürnberger mit ironisch entschuldigenden Worten sein
Bedauern ausgesprochen, daß er auf jenen Wanderungen Georg so viel von
seinen eigenen Familienverhältnissen erzählt hatte, die den andern doch
absolut nicht interessieren konnten. Vom alten Eißler war ein Brief nach
Neapel gelangt, der berichtete, daß eine Vakanz an der Detmolder Hofbühne
im nächsten Jahre wohl nicht vorauszusehen, daß Georg aber durch den
Grafen Malnitz eingeladen wäre, als erwünschter Gast den Proben und
Vorstellungen anzuwohnen, bei welcher Gelegenheit sich vielleicht ein
näheres Verhältnis für die Zukunft anbahnen ließe. Georg hatte höflich
gedankt, war aber vorläufig wenig geneigt, auf eine so vage Aussicht hin in
der fremden Stadt längern Aufenthalt zu nehmen, und entschlossen gleich
nach seinem Eintreffen in Wien sich nach einer sichern Stellung umzusehen.
Sonst klang persönlich zu ihm aus der Heimat nichts herüber. Die ihm
zugedachten Grüße, die Frau Rosner sich verpflichtet fühlte, den Briefen an
die Tochter beizufügen, drangen nicht an sein Herz, trotzdem sie in der letzten
Zeit nicht mehr an den »Herrn Baron«, sondern an »Georg« gerichtet waren.
Er fühlte ja doch, daß die Eltern Annas einfach hinnahmen, was sie nicht
ändern konnten, daß sie aber im Innersten gedrückt und ohne die
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik