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wünschenswerte Einsicht geblieben waren.
Wie gewöhnlich nahm Georg den Rückweg nicht das Ufer entlang. Durch
enge Gassen, zwischen Gartenmauern, dann unter Bogengängen, endlich über
einen großen Platz, von wo der Blick auf den See wieder frei war, gelangte er
vor das Postgebäude, dessen hellgelber Anstrich die Sonne blendend
widerstrahlte. Eine junge Dame, die Georg schon von weitem auf dem
Trottoir auf- und abgehen gesehen hatte, blieb stehen, als er näher kam. Sie
war weiß gekleidet und trug einen weißen Sonnenschirm aufgespannt über
einem breiten Strohhut mit rotem Band. Wie Georg schon ganz nahe war,
lächelte sie, und nun sah er mit einem Mal ein wohlbekanntes Gesicht unter
dem weißen, getupften Tüllschleier. »Ist es möglich, Fräulein Therese«, rief
er aus und nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
»Grüß Sie Gott Baron«, erwiderte sie harmlos, als wäre diese Begegnung
das selbstverständlichste von der Welt. »Wie geht’s der Anna?«
»Danke, sehr gut. Sie werden sie doch jedenfalls besuchen?«
»Wenn’s erlaubt ist.«
»Jetzt aber sagen Sie mir nur, wie kommen Sie hierher! Sind Sie am
Ende… « und er ließ seinen Blick erstaunt über ihre ganze Erscheinung
gleiten, »auf einer Agitationsreise?«
»Das kann man eigentlich nicht sagen«, erwiderte sie und schob ihr Kinn
vor, ohne daß diese Bewegung diesmal, wie sonst, ihr Antlitz verhäßlicht
hätte. »Es ist eher ein Ferienausflug.« Und ihr Gesicht glänzte vor innerm
Lachen, als sie Georgs Blick auf das Tor gerichtet sah, aus dem eben, in
weißschwarz gestreiftem Flanellanzug, Demeter Stanzides hervortrat. Er
lüftete den weichen, grauen Hut zum Gruß und reichte Georg die Hand.
»Guten Morgen Baron, es freut mich Sie wiederzusehen.«
»Auch ich freu mich sehr, Herr Stanzides.«
»Kein Brief für mich?« wandte sich Therese an Demeter.
»Nein Therese, nur für mich ein paar Karten«, und er steckte sie in die
Tasche.
»Seit wann sind Sie denn hier?« fragte Georg und versuchte sich möglichst
wenig überrascht zu zeigen.
»Gestern Abend sind wir angekommen«, entgegnete Demeter.
»Direkt aus Wien?« fragte Georg.
»Nein, aus Mailand. Wir sind schon acht Tage auf Reisen.«
»Zuerst waren wir in Venedig, wie es üblich ist«, ergänzte Therese, zupfte
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik