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Anna antwortete nichts, und Georg schien es, als wandelten ihre Gedanken
wieder auf sehr bürgerlichen Wegen.
»Bist du schon lang aufgestanden? – fragte er rasch.
»Ja, ich sitze schon eine ganze Weile da auf dem Balkon. Ich hab sogar ein
bissel geschlummert, die Luft hat so was Ermattendes heute, und geträumt
hab ich auch.«
»Wovon hast du denn geträumt?«
»Vom Kind«, sagte sie.
»Wieder?«
Sie nickte. »Ganz dasselbe wie neulich. Hier auf dem Balkon bin ich
gesessen, auch im Traum, und hab’s in meinem Arm gehabt, an der Brust… «
»Was war’s denn? Ein Bub oder ein Mädel?«
»Ich weiß nicht. Ein Kind halt. So klein und so süß. Und eine Wonne war
das… Nein, ich geb’s nicht her«, sagte sie dann leise mit geschlossenen
Augen.
Er stand ans Geländer gelehnt und fühlte den leichten Mittagswind in
seinen Haaren streichen. »Wenn du’s nicht fortgeben willst«, sagte er, »so
sollst du’s auch nicht tun.« Und es fuhr ihm durch den Sinn: wär es nicht
sogar das bequemste, wenn ich sie heiratete?… Aber irgend etwas hielt ihn
zurück, es auszusprechen. Sie schwiegen beide. Er hatte die Briefe vor sich
hin auf den Tisch gelegt. Nun nahm er sie und öffnete einen. »Sehen wir
zuerst, was deine Mutter schreibt«, sagte er.
Der Brief der Frau Rosner enthielt die Mitteilung, daß daheim alles wohl sei,
daß man sich sehr freue, Anna bald wieder zu sehen, und daß Josef in der
Administration des »Volksboten« mit fünfzig Gulden Monatsgehalt angestellt
sei. Ferner wäre eine Anfrage von Frau Bittner eingelangt, wann Anna aus
Dresden zurückkäme, und ob es überhaupt sicher wäre, daß sie im nächsten
Herbst wieder da sei, weil man sich andernfalls doch nach einer neuen
Lehrerin umsehen müßte… Anna blieb regungslos und äußerte sich nicht.
Dann las Georg Heinrichs Brief vor. Er lautete: »Lieber Georg, ich freue
mich sehr, daß Sie so bald zurück sein werden, und schreib Ihnen das lieber
heute, weil ich Ihnen ja doch, wenn Sie einmal da sind, nie sagen werde, wie
sehr ich mich darüber freue. Vor ein paar Tagen an der Donau, auf einer
abendlich einsamen Radpartie hab ich eine wahre Sehnsucht nach Ihnen
bekommen. Was übrigens diese Ufer für einen unverwischbaren Duft von
Einsamkeit haben! Ich erinnere mich das schon vor fünf oder sechs Jahren
einmal empfunden zu haben, an einem Sonntag, wie ich in, was man so nennt,
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik