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anzuhören bemüßigt war. Jeder von den Rednern – auch Therese war darunter
– sprach ungefähr so, als gäbe es für ihn persönlich nichts Wichtigeres, als die
Lösung dieser Frage, und ich glaube, keiner von ihnen ahnte, daß ihm in der
Tiefe der Seele die ganze Frage ungeheuer gleichgültig war. Therese war
natürlich sehr empört, als ich ihr das eröffnete, und erklärte mir, daß ich von
dem vergiftenden Skeptizismus Nürnbergers angesteckt sei, mit dem ich
überhaupt zu viel verkehre. Sie ist sehr schlecht auf ihn zu sprechen, seit er
sie vor einigen Wochen im Kaffeehaus gefragt hat, ob sie zu ihrem nächsten
Hochverratsprozeß hohe Frisur oder aufgesteckte Zöpfe tragen werde?
Übrigens stimmt es, daß ich mit Nürnberger viel zusammen bin. In schweren
Stunden gibt es wohl keinen, der einem mit mehr Güte entgegenkäme. Nur
daß es manche Stunden gibt, von deren Schwere er nichts ahnt oder nichts
wissen will. Es gibt allerlei Schmerzen, von denen ich fühle, daß er sie
unterschätzt und von denen ihm gegenüber zu sprechen ich daher aufgehört
habe.«
»Was meint er denn?« unterbrach ihn Anna.
»Offenbar die Geschichte mit der Schauspielerin«, erwiderte Georg und las
weiter: »Dafür ist er wieder geneigt, andere Schmerzen zu überschätzen, aber
das ist wahrscheinlich meine Schuld, nicht seine. Ich muß es gestehen, dem
Verlust, den ich durch den Tod meines Vaters erlitt, hat er eine Teilnahme
entgegengebracht, die mich beschämt hat. Denn so furchtbar es mich
getroffen hat, wir waren einander so fremd geworden, schon lange bevor der
Wahnsinn über ihn hereinbrach, daß sein Tod mir gleichsam nur ein weiteres,
grauenhafteres Entrücken bedeutete, nicht eine neue Erfahrung.«
»Nun?« fragte Anna, da Georg innehielt.
»Mir fällt eben was ein.«
»Was denn?«
»Die Schwester von Nürnberger liegt auf dem Friedhof von Cadenabbia
begraben. Ich hab dir ja von ihr erzählt. Ich will dieser Tage einmal
hinüberfahren.«
Anna nickte. »Ich fahr vielleicht mit, wenn mir ganz wohl ist. Mir ist
Nürnberger nach allem, was ich von ihm höre, viel sympathischer als dein
Freund Heinrich, dieser schauerliche Egoist.«
»Du findest?«
»Na höre, wie er über seinen Vater schreibt, das ist doch beinahe
unerträglich.«
»Gott, wenn man einander so fremd geworden ist wie die zwei.«
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik