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»Trotzdem. Auch meinen Eltern bin ich innerlich nicht gerade sehr nah.
Und doch… wenn ich… nein, nein ich will lieber gar nicht an solche Dinge
denken. Willst du nicht weiter lesen?«
Georg las: »Es gibt ernstere Dinge als den Tod, traurigere gewiß, weil eben
diesen andern Dingen das Endgültige fehlt, das im höhern Sinn das Traurige
des Todes wieder aufhebt. Es gibt zum Beispiel lebendige Gespenster, die auf
der Straße wandeln bei hellichtem Tag, mit längst gestorbenen und doch
sehenden Augen, Gespenster, die sich zu einem hinsetzen und mit einer
Menschenstimme reden, die viel ferner klingt als aus einem Grab heraus. Und
man könnte sagen, daß in Augenblicken, da man dergleichen erlebt, das
Wesen des Todes sich viel unheimlicher erschließt, als in solchen, da man
dabeisteht, wie jemand in die Erde gesenkt wird… und wär er einem noch so
nah gestanden.«
Georg ließ den Brief unwillkürlich sinken, und Anna sagte mit
Bestimmtheit: »Du kannst ihn dir schon behalten deinen Freund Heinrich.«
»Ja«, erwiderte Georg langsam, »er ist manchmal ein bißchen affektiert.
Und doch… o, das ist ja schon das erste Läuten zum Lunch, lesen wir rasch
zu Ende.« »Aber nun muß ich Ihnen doch erzählen, was sich gestern hier
zugetragen hat, die peinlichste und lächerlichste Geschichte, die mir seit
langem vorgekommen ist, und leider sind die Beteiligten unsere guten
Bekannten Ehrenberg Vater und Sohn.«
»O«, rief Anna unwillkürlich.
Georg hatte die folgenden Zeilen rasch für sich durchgeflogen und
schüttelte den Kopf.
»Was ist denn?« fragte Anna.
»Das ist doch… höre nur«, und er las weiter. »Wie sehr sich das Verhältnis
zwischen dem Alten und Oskar im Lauf des letzten Jahres zugespitzt hat, wird
Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie kennen ja auch die innern Gründe, so daß
ich den Vorfall einfach berichten kann, ohne mich über die Motive des
breitern auszulassen. Denken Sie also. Gestern zur Mittagszeit geht Oskar an
der Michaelerkirche vorüber und lüftet den Hut. Sie wissen, daß es zurzeit
kaum eine Eigenschaft gibt, die für eleganter gilt als die Frömmigkeit. Und so
bedarf es vielleicht nicht einmal einer weiteren Erklärung wie z. B. die, daß
eben ein paar junge Aristokraten aus der Kirche gekommen sein mögen, vor
denen sich Oskar katholisch gebärden wollte. Weiß der Himmel wie oft er
schon vorher sich dieser Falschmeldung ungefährdet schuldig gemacht hat.
Das Unglück wollte nun gestern, daß im selben Moment der alte Ehrenberg
des Wegs daherkommt. Er sieht wie Oskar vor dem Kirchentor den Hut
abnimmt… und von einer fassungslosen Wut ergriffen, holt er aus und haut
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik