Seite - 179 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 179 -
Text der Seite - 179 -
zum Eingang des Hotels. Auch Georg und Therese gingen weiter, ungesehen,
außerhalb des Gitters, im finstersten Schlagschatten. Plötzlich ergriff Georg
die Hand seiner Begleiterin. Diese wandte, wie erstaunt, sich zu ihm, und
beide standen sich nun gegenüber, von Dunkel umhüllt und näher als sie
verstehen konnten. Sie wußten nicht wie… sie wollten es kaum, und ihre
Lippen ruhten aufeinander, einen kurzen Augenblick, der mehr erfüllt war
von der wehen Lust der Lüge als von irgend einer andern. Dann gingen sie
weiter, schweigend, unbeglückt, verlangend, und durchschritten das
Gartentor.
Die beiden andern vor dem Hotel wandten sich jetzt um und gingen ihnen
entgegen. Rasch sagte Therese zu Georg: »Selbstverständlich fahren Sie nicht
mit uns.« Georg nickte leicht. Nun standen alle in der breiten, ruhigen Helle
der Bogenlampen.
»Es war ein wunderschöner Abend«, sagte Demeter und küßte Anna die
Hand.
»Also auf Wiedersehen in Wien«, sagte Therese und umarmte Anna.
Demeter wandte sich zu Georg. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh auf
dem Schiff.«
»Es wäre möglich, aber ich will nichts versprechen.«
»Adieu«, sagte Therese und reichte Georg die Hand.
Dann wandte sie sich mit Demeter zum Gehen.
»Wirst du mit ihnen fahren?« fragte Anna, während sie durchs Tor in die
Halle gingen, wo Herren und Damen saßen, rauchten, tranken, plauderten.
»Was fällt dir ein«, erwiderte Georg, »ich denke nicht dran.«
»Herr Baron«, rief plötzlich jemand hinter ihm. Es war der Portier, der ein
Telegramm in der Hand hielt.
»Was ist denn das?« fragte Georg etwas erschrocken und öffnete rasch.
»O«, rief er aus, »wie entsetzlich.«
»Was ist denn?« fragte Anna.
Er las ihr vor, während sie in das Blatt schaute. »Oskar Ehrenberg hat heute
früh im Wald bei Neuhaus einen Selbstmordversuch verübt. Schuß in die
Schläfe, wenig Hoffnung, sein Leben zu erhalten. Heinrich.« Anna schüttelte
den Kopf. Schweigend gingen sie die Treppen hinauf und ins Zimmer, das
Anna bewohnte. Die Balkontür war weit geöffnet. Georg trat ins Freie. Aus
der Dunkelheit heraus drang ein schwerer Duft von Magnolien und Rosen.
Vom See war nichts zu sehen. Wie aus einem Abgrund gewachsen ragten die
179
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik