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er mit einem Menschen nur einmal fünf Minuten lang sprach, so hatte er ihn
ja ganz. Irgendein Wort, dessen Bedeutung ein anderer gar nicht merkte, riß
für ihn wie ein Sturmwind die Schleier von den Seelen. Sein Traum war es, in
der Operndichtung sich als Meister des Phantastischen, in der Komödie des
realistischen Moments zu zeigen und so der Welt zu beweisen, daß er im
Himmel und auf Erden gleichermaßen zu Hause wäre. Bei einer spätern
Zusammenkunft ließ Georg sich vorlesen, was vom ersten Akt der Oper
vollendet war; er fand die Verse sehr sangbar und bat Heinrich um die
Erlaubnis, das Manuskript Anna mitzubringen. Diese konnte dem, was Georg
ihr vortrug, nicht viel Geschmack abgewinnen; er aber, ohne rechte
Überzeugung, behauptete, daß sie eben gleichsam die Sehnsucht dieser Verse
nach Vertonung spüre, was sie notwendig als Mangel empfinden müsse.
Als Georg heute zu Heinrich ins Zimmer trat, saß dieser an dem großen
Tisch in der Mitte des Zimmers, der mit Blättern und Briefen überdeckt war.
Auch auf dem Pianino und auf dem Diwan lagen beschriebene Papiere aller
Art. Ein vergilbtes Blatt hielt Heinrich noch in der Hand, als er aufstand und
Georg mit den Worten begrüßte: »Nun, wie gehts auf dem Land?« Dies war
die Art, in der er sich nach Annas Befinden zu erkundigen pflegte, und die
Georg jedesmal von neuem als zu intim empfand. »Danke, sehr gut«,
erwiderte er. »Ich komme Sie übrigens fragen, ob Sie heute vielleicht mit mir
hinauskommen wollen.«
»O ja, sehr gern. Die Sache ist nur die, daß ich da eben im Ordnen
verschiedener Papiere begriffen bin. Ich könnte erst abends kommen, so
gegen sieben. Ist es Ihnen recht?«
»Gewiß«, sagte Georg. »Aber ich störe Sie, wie ich sehe«, setzte er hinzu,
indem er auf den übersäten Tisch wies.
»Durchaus nicht«, erwiderte Heinrich, »ich ordne ja nur, wie ich Ihnen
eben sagte. Es ist der schriftliche Nachlaß meines Vaters. Das da sind Briefe
an ihn. Und hier tagebuchartige Aufzeichnungen, hauptsächlich aus seiner
parlamentarischen Zeit. Ergreifend, sag ich Ihnen. Wie hat dieser Mann sein
Vaterland geliebt! Und wie hat man’s ihm gedankt! Sie haben keine Ahnung,
in welcher raffinierten Weise man ihn aus seiner Partei hinausgedrängt hat.
Ein verwirrendes Ineinanderspiel von Tücke, Beschränktheit, Brutalität…
echt deutsch, mit einem Wort.«
Georg lehnte sich auf. Und er wagt es, dachte er, sich über den
Antisemitismus aufzuhalten? Ist er besser? Gerechter? Vergißt er, daß auch
ich ein Deutscher bin… ?
Heinrich sprach weiter. »Aber ich werde diesem Mann ein Denkmal
setzen… Er, kein anderer, wird der Held meines politischen Dramas sein. Er
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik