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allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen.
Weil es eben eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder mit sich selbst
abmachen muß, wie er kann. Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet
aus seinem Ärger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel,
irgendwohin, wo er wieder frei aufatmen kann. Vielleicht gibt es wirklich
Leute, die dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen… Ich fürchte nur, daß
manche, an diesem vermeintlichen Ziel angelangt, sich erst recht verirrt
vorkommen würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins
Freie sich gemeinsam unternehmen lassen… denn die Straßen dorthin laufen
ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden
darauf an, seinen inneren Weg zu finden. Dazu ist es natürlich notwendig,
möglichst klar in sich zu sehen, in seine verborgensten Winkel
hineinzuleuchten! Den Mut seiner eigenen Natur zu haben. Sich nicht beirren
lassen. Ja, das müßte das tägliche Gebet jedes anständigen Menschen sein:
Unbeirrtheit!«
Georg dachte: Wo ist er nun schon wieder? Er ist in seiner Art genau so
krank, wie sein Vater es war. Dabei kann man doch nicht sagen, daß er
persönlich schlimme Erfahrungen gemacht hat. Und er hat einmal behauptet,
daß er sich mit niemandem zusammengehörig fühle! Es ist ja nicht wahr. Mit
allen Juden fühlt er sich zusammengehörig, und mit dem letzten von ihnen
noch immer enger als mit mir. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf
gingen, fiel sein Blick auf ein großes Kuvert, das auf dem Tisch lag, und er
las darauf die mit großen, römischen Buchstaben geschriebenen Worte:
»Nicht vergessen, nie dran vergessen.«
Heinrich gewahrte Georgs Blick, nahm das Kuvert in die Hand, auf dessen
Rückseite drei gewaltige, graue Siegel zum Vorschein kamen, warf es dann
wieder auf den Tisch, ließ wie verächtlich die Unterlippe sinken und sagte:
»Diese Sache hab ich nämlich auch heute in Ordnung gebracht. Es gibt solche
Tage des großen Reinemachens. Andre Leute hätten das Zeug verbrannt.
Wozu? Ich werd es vielleicht einmal mit Vergnügen wieder lesen. In diesem
Kuvert sind nämlich die anonymen Briefe, von denen ich Ihnen einmal
erzählt habe.«
Georg schwieg. Bisher hatte Heinrich über die Umstände, unter denen
seine Beziehungen mit der Schauspielerin geendet hatten, nichts verlauten
lassen; nur eine Stelle in dem Brief nach Lugano hatte darauf hingedeutet, daß
er die einst Geliebte nicht ohne innern Schauer wiedergesehen hatte. Fast
gegen den eigenen Willen kam es über Georgs Lippen.»Sie kennen doch die
Geschichte von Nürnbergers Schwester, die in Cadenabbia begraben liegt?«
Heinrich bejahte. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe ihr Grab besucht, ein paar Tage vor meiner Abreise.« Er zögerte.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik