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Heinrich sah ihn starr an, mit einem heftig fragenden Blick, der Georg zum
Weitersprechen zwang. »Und nun denken Sie, wie sonderbar, seither
vermengen sich in meiner Erinnerung immer diese zwei Wesen, von denen
ich das eine nie gesehen habe, das andre nur flüchtig, auf dem Theater, wie
Sie wissen – nämlich die tote Schwester Nürnbergers und… diese
Schauspielerin.«
Heinrich wurde blaß bis in die Lippen. »Sind Sie abergläubisch?« fragte er
höhnisch, aber es klang, als fragte er sich selbst.
»Durchaus nicht«, antwortete Georg. »Was hat übrigens diese Sache mit
Aberglauben zu tun?«
»Ich will Ihnen nur sagen, daß mir alle Dinge, die irgendwie mit Mystik
zusammenhängen, im Grund der Seele zuwider sind. Über Dinge zu reden,
von denen man nichts wissen kann, ja, deren Wesen es ist, daß man nie und
nimmer was von ihnen wissen kann, das scheint mir von aller Art Geschwätz,
die auf Erden für Wissenschaft ausgegeben wird, die unerträglichste.«
Sollte sie gestorben sein, diese Schauspielerin? dachte Georg.
Plötzlich hielt Heinrich das Kuvert wieder in der Hand, und in dem
trockenen Tone, den er gerade dann anzuschlagen beliebte, wenn er bis ins
Tiefste durchwühlt war, sagte er: »Daß ich diese Worte hergeschrieben habe,
ist kindische Spielerei – oder Affektation, wenn Sie wollen. Ich hätte auch
wie Daudet vor seine Sappho die Worte hersetzen können: Meinen Söhnen,
wenn sie zwanzig Jahre alt sein werden… Zu dumm übrigens. Als wenn ein
Mensch mit den Erfahrungen eines andern das geringste anfangen könnte!
Die Erfahrungen des einen können für den andern manchmal amüsant, öfters
verwirrend, aber nie lehrreich sein… Und wissen Sie, woher es kommt, daß
jene beiden Gestalten sich in Ihrem Kopf vermengen? Ich will’s Ihnen sagen.
Einfach daher, daß ich in einem meiner Briefe für meine einstige Geliebte den
Ausdruck Gespenst angewandt habe. So erklärt sich dieses geheimnisvolle
Ineinanderfließen.«
»Das wäre nicht unmöglich«, entgegnete Georg.
Von irgendwoher, undeutlich, kam schlechtes Klavierspiel. Georg blickte
hinaus. Auf der gelben Mauer drüben lag die Sonne. Viele Fenster waren
offen. An einem saß ein Junge, die Arme aufs Fensterbrett gestützt, und las.
Von einem andern schauten zwei junge Mädchen hinunter in den Gartenhof.
Das Klappern von Geschirr war hörbar. Georg sehnte sich nach freier Luft,
nach seiner Bank am Waldesrand. Bevor er sich aber zum Gehen wandte, fiel
ihm ein: »Was ich Ihnen noch sagen wollte, Heinrich, Ihre Verse haben auch
Anna sehr gefallen. Haben Sie weitergeschrieben?«
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik