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Er nahm ihre Hände zwischen die seinen und streichelte sie. »Es wird
schon alles werden«, sagte er ein wenig bedrückt. Er sah sich plötzlich in
einem sehr bürgerlichen Heim, unter dem bescheidenen Licht einer
Hängelampe, beim Abendessen sitzen, zwischen Frau und Kind. Und aus
dieser geträumten Familienszene wehte es ihm entgegen wie ein Hauch von
sorgenvoller Langeweile. Ah, es war noch zu früh dazu, er war noch zu jung.
Wie sollte es denn werden? War es denn möglich, daß sie die letzte Frau
blieb, die er umarmt hätte? Vielleicht konnte sie es werden, in Jahren, in
Monaten schon… aber heute noch nicht. Trug und Lüge in ein
wohlgeordnetes Heim zu tragen, davor scheute er wohl zurück. Doch der
Gedanke, von ihr fortzueilen zu andern, die er begehrte, mit dem Bewußtsein,
Anna so wieder zu finden, wie er sie verlassen, war lockend und beruhigend
zugleich.
Der bekannte Pfiff von drüben tönte. Die Hündin erhob sich, ließ sich von
Georg noch einmal über den gelb gefleckten Rücken streichen und schlich
traurig ihren Weg hinab.
»Herr Gott«, sagte Georg, »das hätte ich ja beinahe vergessen. Heinrich
kann jeden Augenblick da sein.« Er erzählte Anna von seinem Besuch und
verschwieg auch nicht, daß er zwischen Tür und Angel die ungetreue
Schauspielerin kennen gelernt hatte.
»Ist es ihr also gelungen?« rief Anna aus, die für Damen mit irrenden
Augen keine Neigung fühlte.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Georg, »daß ihr irgend etwas gelungen ist.
Heinrich war von ihrem Erscheinen sogar ziemlich unangenehm berührt, kam
mir vor.«
»Nun, vielleicht bringt er sie mit«, sagte Anna mit Spott, »und du hast
wieder wen zum kokettieren wie in Lugano die Königsmörderin.«
»Ach Gott«, machte Georg unschuldig, und beiläufig fügte er hinzu: »Was
ist’s denn übrigens mit Therese, warum kommt sie denn gar nicht mehr zu
dir? Demeter ist ja nicht mehr in Wien. Sie hätte wohl Zeit genug.«
»Sie war erst vor ein paar Tagen da. Ich hab dir’s ja gesagt, stell dich doch
nicht so.«
»Ich hatte es wirklich vergessen«, erwiderte er mit Aufrichtigkeit. »Was hat
sie dir denn erzählt?«
»Alles mögliche. Die Geschichte mit Demeter ist aus. Ihr Herz schlägt
wieder ausschließlich für die Armen und Elenden – bis auf Widerruf.« Und
unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit vertraute ihm Anna Theresens
Winterpläne an. Als armes Weib verkleidet, wollte sie Wanderungen durch
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik