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Wärmestuben, Suppen- und Teeanstalten, Asyle für Obdachlose und
Arbeitshäuser unternehmen, um einmal dem sogenannten goldnen Herzen von
Wien in die verborgensten Winkel hineinzuleuchten. Sie schien gefaßt und
hoffte vielleicht ein wenig darauf, Ungeheuerlichkeiten zu entdecken.
Georg sah vor sich hin. Er erinnerte sich der eleganten Dame, im weißen
Kleid, die im Sonnenglanz von Lugano vor dem Postgebäude gestanden war,
fern von allem Jammer der Welt. Sonderbares Geschöpf, dachte er. »Sie will
natürlich ein Buch daraus machen«, sagte Anna. »Also daß du keinem
Menschen was davon erzählst, auch deinem Freund Bermann nicht.«
»Fällt mir nicht ein. Aber sag, Anna, mußt du nicht was vorbereiten für
abend?«
Sie nickte. »Komm, begleit mich hinunter, ich will nachsehen, was da ist,
und mich im übrigen mit der Marie beraten… soweit das möglich ist.«
Sie standen auf. Die Schatten waren lang. Im Garten nebenan lärmten die
Kinder. Anna nahm den Arm des Geliebten und ging langsam mit ihm hinab.
Sie erzählte die neuesten Beispiele von der fabelhaften Dummheit der Magd.
Ich Ehemann, dachte Georg und hörte mit Nachsicht zu. Beim Haus angelangt
sprach er die Absicht aus, Heinrich entgegenzusehen, verließ Anna und begab
sich auf die Straße. Da rüttelte eben ein Einspänner heran; Heinrich sprang
heraus und entließ den Kutscher. »Grüß Sie Gott«, sagte er zu Georg, »haben
Sie mich am Ende schon erwartet? Es ist ja noch gar nicht so spät.«
»Gewiß nicht, Sie sind sehr pünktlich. Ist es Ihnen recht, so machen wir
noch einen kleinen Spaziergang.«
»Gern.«
Sie spazierten weiter, vorbei an dem gelben Gasthof mit den roten
Terrassen, in den Wald.
»Hier ist’s ja wundervoll«, sagte Heinrich. »Und auch Ihre Villa sieht ganz
nett aus. Warum wohnen Sie eigentlich nicht heraußen?«
»Ja, es ist ein Unsinn«, gab Georg zu, ohne weitere Erklärungen. Dann
schwiegen sie eine Weile.
Heinrich war in hellgrauem Sommeranzug und trug auf dem Arm seinen
Mantel, den er ein wenig nachschleppen ließ. »Haben Sie sie wiedererkannt?«
fragte er plötzlich, ohne aufzusehen.
»Ja«, erwiderte Georg.
»Sie ist nur auf einen Tag hergefahren, aus ihrem Sommerengagement.
Heute Nacht reist sie wieder zurück. Ein Handstreich sozusagen. Aber
mißlungen.« Er lachte.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik