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dem er die Gründe seines Rücktrittes dargelegt hatte, das waren Leistungen
hohen Ranges gewesen… Ja und mehr als das – Dokumente der Zeit.
Über Annas Antlitz flog ein leichtes, beinahe stolzes Lächeln. Sie sah auf
ihren Teller nieder und dann rasch zu Georg auf. Auch Georg lächelte. Keine
Spur von Eifersucht regte sich in ihm. Ob Berthold ahnte… ? Gewiß. Ob er
litt?… Wahrscheinlich. Ob er Anna verzeihen könnte? Daß man da erst
verzeihen mußte! Wie dumm.
Ein Gericht Schwämme wurde aufgetragen, bei dessen Erscheinen Heinrich
die Frage nicht unterlassen konnte, ob sie etwa giftig wären. Georg lachte.
»Sie brauchen mich nicht zu verhöhnen«, sagte Heinrich. »Wenn ich mich
umbringen wollte, würde ich weder vergiftete Schwämme, noch verdorbene
Wurst, sondern ein edleres und rascheres Gift wählen. Man ist zuweilen
lebensüberdrüssig, aber man ist nie gesundheitsüberdrüssig, selbst für die
letzte Viertelstunde seiner Existenz. Und im übrigen ist die Ängstlichkeit eine
ganz rechtmäßige, nur meistens schändlich verleugnete Tochter des
Verstandes. Denn was heißt Ängstlichkeit? Alle Möglichkeiten in Betracht
ziehen, die aus einer Handlung erfolgen können, die schlimmen geradeso wie
die guten. Und was ist Mut? Ich meine natürlich den wirklichen, der viel
seltener vorkommt, als man glaubt. Denn der affektierte, oder kommandierte,
oder suggerierte Mut zählt doch nicht. Der echte Mut ist oft gewiß nichts
anderes als der Ausdruck für eine sozusagen metaphysische Überzeugung von
der eigenen Überflüssigkeit.«
Du Jude, dachte Georg ohne Feindseligkeit, und dann: er hat vielleicht
nicht so unrecht.
Das Bier, von dem Anna nicht trank, schmeckte so gut, daß die Marie um
einen zweiten Krug ins Wirtshaus geschickt wurde. Man kam in behagliche
Stimmung. Georg erzählte wieder von der Reise: von den sonnenschweren
Tagen in Lugano, von der Fahrt über den beschneiten Brenner, von der
Wanderung durch die dächerlose Stadt, die nach zweitausendjähriger Nacht
dem Licht entgegendrängte; er beschwor den Augenblick wieder herauf, in
dem sie dabei gewesen waren, er und Anna, als Arbeiter vorsichtig und
mühevoll eine Säule aus der Asche herausschaufelten. Heinrich hatte Italien
noch nicht gesehen. Im nächsten Frühjahr wollte er hin. Er erklärte, daß er
sich manchmal in Sehnsucht verzehre, wenn auch nicht gerade nach Italien,
doch nach Fremde, Ferne, Welt. Manchmal, wenn er vom Reisen sprechen
hörte, bekäme er Herzklopfen wie ein Kind am Vorabend des Geburtstages.
Er zweifelte, daß es ihm bestimmt war, sein Leben in der Heimat zu
vollenden. Vielleicht auch, daß er nach jahrelangen Wanderungen
zurückkehrte, in einem kleinen Haus auf dem Land den Frieden seiner spätern
Mannesjahre fände. Wer weiß, es gäbe ja so seltsame Zufälle, ob ihm nicht
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik