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Fesseln werden gelöst, alle neigen sich vor ihm. Er wird begrüßt wie ein
Fürst. Die Sonne geht auf. Ägidius hat Gelegenheit zu bemerken, daß er sich
in der besten Gesellschaft befindet. Schöne Frauen, Edelleute. Ein Weiser, ein
Sänger, ein Narr sind zu größern Rollen bestimmt. Aus dem Chor der Frauen
löst sich aber keine andre als die Prinzessin selbst, die Ägidius zu eigen
gehört, wie alles auf dem Schiff.«
»Ein splendider Vater und König«, sagte Georg.
»Für einen geistreichen Einfall ist ihm nichts zu teuer«, erläuterte Heinrich,
»das ist seine Natur. Es folgt ein herrliches Duett zwischen Ägidius und der
Prinzessin, dann setzt man sich zum Mahl. Nach dem Mahle Tanz. Hohe
Stimmung. Ägidius muß sich natürlich für gerettet halten. Er wundert sich
nicht übermäßig, denn sein Haß gegen den König war immer sehr von
Bewunderung unterzündet. Der Abend bricht an. Plötzlich ist ein Fremder an
der Seite des Ägidius. Vielleicht ist er auch längst dagewesen. Einer unter den
vielen, unbemerkt, stumm. Er hat ein Wort mit Ägidius zu sprechen. Fest und
Tanz gehen unterdessen weiter. Ägidius und der Fremde. All dies ist Euer,
sagt der Fremde. Ihr könnt damit nach Belieben walten, könnt Besitz
ergreifen und töten, ganz wie Ihr wollt. Aber morgen… oder in zwei, oder in
sieben Tagen, oder in einem Jahr, oder in zehn oder noch später, wird dieses
Schiff sich einer Insel nähern, an deren Ufer auf einem Felsen eine marmorne
Halle ragt. Und dort wartet Euer der Tod. Der Tod. Euer Mörder ist mit Euch
auf dem Schiff. Aber nur der eine, der dazu bestimmt ist, Euer Mörder zu
sein, weiß es selbst. Kein anderer kennt ihn. Ja überhaupt kein anderer auf
diesem Schiff ahnt, daß Ihr ein Todgeweihter seid. Das bewahrt wohl in Euch!
Denn wenn Ihr Euch irgendwie merken laßt, daß Euer Los Euch selbst
bekannt ist, so seid Ihr noch in derselben Stunde dem Tode verfallen.«
Heinrich sprach diese Worte mit affektiertem Pathos, wie um seine
Befangenheit zu verbergen. Einfacher fuhr er fort. »Der Fremde
verschwindet. Vielleicht laß ich ihn auch ans Land setzen von zwei
Schweigenden, die ihn begleitet haben. Ägidius bleibt zurück, unter
Hunderten, Männern und Frauen, von denen einer oder eine sein Mörder ist.
Wer? Der Weise? Der Narr? Der Sterngucker dort? Irgendeiner von denen, die
im Dunkeln kauern? Die dort am Geländer schleichen? Eine von den
Tänzerinnen? Die Prinzessin selbst? Sie tritt wieder zu ihm, ist sehr zärtlich,
ja leidenschaftlich. Heuchlerin? Mörderin? Liebende? Wissende? Jedenfalls
die Seine. All dies heute noch so sein. Nacht über dem Meer. Schauer.
Wonnen. Das Schiff langsam weiter, jenem Ufer entgegen, das Stunden oder
Jahre weit entfernt im Nebel liegt. Die Prinzessin ruht zu seinen Fußen,
Ägidius starrt in die Nacht und wartet.« Heinrich hielt inne, wie selbst
bewegt. In Georg klang es. Er hörte die Musik zu der Szene, da der Fremde
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik