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wüstes Leben führen, spielen und sich in der übelsten Gesellschaft
herumtreiben, als wenn er sich durchaus zugrunde richten wollte. Ob Heinrich
die Sache noch immer so tragikomisch fände? Frau Ehrenberg war ganz weiß
geworden vor Kränkung, und Else hatte sich an einem Morgen im Park oben
vor Georg so recht ausgeweint. Ob sie nur um Oskar geweint hatte?
Das Grau vor dem Kupeefenster erhellte sich langsam. Georg sah, wie
draußen die Telegraphendrähte in eiligen Wellen mitschwebten und
wanderten, und er dachte daran, daß gestern Nachmittag auf einem dieser
Drähte auch seine lügnerischen Worte zu Anna gewandert waren: Morgen
früh bin ich bei dir, in Sehnsucht Dein Georg… Gleich vom Amt aus war er
wieder zurückgeeilt, zu einer glühenden und verzweifelten Abschiedsstunde
mit jener andern. Und er konnte es nicht fassen, daß sie auch in dieser Stunde
noch, während er schon eine ganze Ewigkeit lang von ihr fort war, noch in
dem gleichen Zimmer mit den fest geschlossenen Fensterläden liegen und
schlafen und träumen sollte. Und heute Abend wird sie daheim sein bei Mann
und Kindern, daheim – wie er. Er wußte, daß es so war, und er konnte es nicht
verstehen. Das erstemal in seinem Leben war er nahe daran gewesen, irgend
etwas zu begehen, was die Leute vielleicht Tollheit hätten nennen dürfen. Nur
ein Wort von ihr – und er wäre mit ihr in die Welt gegangen, hätte alles
zurückgelassen, Freunde, Geliebte und sein ungeborenes Kind. Und war er
nicht noch immer bereit dazu? Wenn sie ihn riefe, würde er nicht kommen?
Und wenn er’s täte, hätte er nicht Recht? War er nicht für Abenteuer solcher
Art viel mehr geschaffen, als für das stille, pflichtenvolle Dasein, das er sich
erwählt hatte? War es nicht eher seine Bestimmung, unbedenklich und kühn
durch die Welt zu treiben, als irgendwo festzusitzen mit Weib und Kind, mit
der Sorge ums tägliche Brot, um die Karriere und höchstens um ein bißchen
Ruhm? In diesen Tagen, aus denen er jetzt kam, hatte er sich leben gefühlt,
vielleicht das erste Mal. Jeder Augenblick war so reich und erfüllt gewesen,
nicht die in ihren Armen allein. Er war wieder jung geworden mit einemmal.
Blühender hatte die Landschaft geprangt, der Himmel hatte sich weiter
gespannt, die Luft, die er trank, hatte bessere Würze und Kraft geatmet. Und
Melodien hatten in ihm gerauscht, wie nie zuvor. Hatte er je ein schöneres
Lied komponiert, als jenes heiter-wiegende, ohne Worte, »auf dem Wasser zu
singen?« Und seltsam, aus ungeahnter eigner Tiefe war das Phantasiestück
emporgestiegen, am Seeufer, eine Stunde, nachdem er die wunderbare Frau
zum erstenmal erblickt hatte. Nun sollte ihn Herr Hofrat Wilt nicht lange
mehr für einen Dilettanten halten. Doch warum dachte er gerade an den?
Wußten die andern besser, wer er war? Schien es ihm nicht manchmal, als ob
sogar Heinrich, der ihm doch einmal einen Operntext hatte schreiben wollen,
ihn um nichts gerechter beurteilte? Und er hörte die Worte wieder, die der
Dichter zu ihm gesprochen hatte, an jenem Morgen, da sie von Lambach
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik