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Mittagstunde noch mußte er ja auf dem Lande sein.
Er hatte seine Kleider abgeworfen, ließ sich in seiner weißen Wanne
wonniglich von warmem Wasser umspülen. Um im Bade nicht einzuschlafen,
wählte er ein Mittel, das sich schon öfters bewährt hatte. Er dachte eine Fuge
von Bach Note für Note durch. Das Klavierspiel fiel ihm ein, das mußte auch
wieder tüchtig geübt werden. Und Partituren gelesen. Ob es nicht doch das
klügste war, noch ein Jahr dem Studium zu widmen? Nicht erst unterhandeln,
oder gar eine Stellung annehmen, die man am Ende nicht ausfüllen konnte?
Lieber hier bleiben und arbeiten. Hier bleiben? Wo denn? Die Wohnung war
ja gekündigt. Einen Augenblick fuhr ihm durch den Sinn, sich in dem alten
Hause einzumieten, der grauen Kirche gegenüber, wo er so schöne Stunden
mit Anna verbracht hatte; und es war ihm, als erinnerte er sich einer längst
vergangenen Geschichte, eines Jugendabenteuers, heiter und ein wenig
geheimnisvoll, das lange vorbei war. –
Erfrischt und in einem ganz neuen Gewand, dem ersten hellen, das er seit
dem Tode des Vaters anlegte, trat er in sein Zimmer zurück. Ein Brief lag auf
dem Schreibtisch, den eben die Frühpost gebracht hatte. Von Anna. Er las.
Nur ein paar Worte waren es: »Du bist wieder da, mein Geliebter! Ich grüße
Dich. Ich sehne mich nach Dir. Laß mich nicht zu lange warten. Deine
Anna«…
Georg sah auf. Er wußte selbst nicht, was ihn an diesem kurzen Brief so
sonderbar berührte. Annas Briefe hatten sonst immer, bei aller Zärtlichkeit,
etwas Gemessenes, fast Konventionelles bewahrt, und manchmal hatte er sie
im Scherz »Erlässe« genannt. Dieser hier war in einem Ton gehalten, der ihn
an das leidenschaftliche Mädchen aus früherer Zeit erinnerte; an seine
Geliebte, die er beinahe vergessen hatte; und seltsam unerwartet griff Unruhe
nach seinem Herzen. Er eilte die Treppe hinab, setzte sich in den nächsten
Fiaker und fuhr aufs Land. Bald fühlte er sich angenehm zerstreut durch den
Anblick der Menschen auf den Straßen, die ihn nichts angingen; und später,
als er den Wäldern schon nah war, beruhigte ihn die Anmut des blauen
Sommertages. Mit einemmal, früher als Georg gedacht, hielt der Wagen vor
dem Landhaus. Unwillkürlich sah Georg zuerst zum Balkon unter dem Giebel
auf. Ein kleines Tischchen stand oben, mit weißer Decke, und ein Körbchen
darauf. Ach ja, Therese hatte ein paar Tage hier gewohnt. Jetzt erst fiel es ihm
wieder ein. Therese… ! Wo war das! Er stieg aus, entließ den Wagen und trat
ins Vorgärtchen, wo auf bescheidenem Postament unter verblühten Beeten der
blaue Engel stand. Er trat ins Haus. Im großen Mittelzimmer deckte die Marie
eben den Tisch.
»Im Garten oben is die gnä Frau«, sagte sie.
Die Tür zur Veranda stand offen. Die Bretter des Bodens knarrten unter
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik