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Dienstmädchen am Arm gefaßt, das sich nur wenig sträubte. Auch hier wird
vielleicht zu einem neuen Menschenleben der Grund gelegt, dachte Georg
und wandte sich angewidert fort. Dann trat er ins Zimmer zurück, füllte sich
seine Zigarettentasche sorgfältig aus der Schachtel, die auf dem Tisch stand,
und plötzlich kam ihm seine Aufregung unbegründet, ja kindisch vor. Und es
fiel ihm ein: Wie Anna jetzt, so lag auch meine Mutter einmal da, eh ich zur
Welt kam. Ob mein Vater auch in solcher Angst herumgegangen ist? Ob er
heute hier wäre, wenn er noch lebte? Ob ich’s ihm überhaupt gesagt hätte? Ob
all das geschehen wäre, wenn er lebte? Er dachte an schöne, sorgenlose
Sommertage am Veldeser See. Sein behagliches Zimmer in des Vaters Villa
schwebte in seiner Erinnerung auf, und in dumpfer, beinahe traumhafter
Weise wurde ihm die kahle Mansarde mit dem krachenden Fußboden, in der
er sich eben befand, zum Bilde seiner ganzen jetzigen Existenz, gegenüber
dem sorgen- und verantwortungslosen Dasein von einst. Er erinnerte sich
eines ernsten Zukunftsgesprächs, das er vor ein paar Tagen mit Felician
geführt hatte. Gleich darauf kam ihm die Unterredung mit einer Frau vom
Land in den Sinn, die sich mit dem Anerbieten gemeldet hatte, das Kind in
Pflege zu nehmen. Mit ihrem Mann besaß sie ein kleines Gütchen nahe der
Bahn, nur eine Stunde weit von Wien, und im vorigen Jahr war ihr das eigene
Töchterl gestorben. Das Kleine sollte es gut bei ihr haben, hatte sie
versprochen, so gut, als wenn es gar nicht bei fremden Leuten wäre. Und wie
Georg daran dachte, war ihm plötzlich, als stände ihm das Herz still. Eh es
dunkel ist, wird es da sein… das Kind. Sein Kind, auf das schon irgend eine
Fremde wartete, um es mit sich zu nehmen. Er war so müde von den
Aufregungen der letzten Tage, daß ihn die Knie schmerzten. Er erinnerte sich
ähnlicher körperlicher Empfindungen aus früherer Zeit, vom Abend nach der
Maturitätsprüfung und von der Stunde in der er Labinskis Selbstmord
erfahren hatte. Vor drei Tagen, als die Wehen anfingen, wie anders, wie
freudig und erwartungsvoll war ihm da zumut gewesen! Jetzt spürte er nichts,
als ein Abgeschlagensein ohnegleichen, und immer unangenehmer empfand
er den muffigen Geruch der Mansarde. Er zündete sich eine Zigarette an und
trat wieder auf den Balkon hinaus. Die warme, stille Luft tat ihm wohl. Auf
dem Sommerhaidenweg lag noch die Sonne, und vom Friedhof her, über die
Mauer, schimmerte ein vergoldetes Kreuz.
Er hörte unter sich ein Geräusch. Schritte? Ja, Schritte und auch Stimmen.
Er verließ den Balkon, das Zimmer, lief über die knarrende Holztreppe hinab.
Eine Tür ging, eilige Schritte waren im Flur. Im nächsten Moment stand er
auf der untersten Stufe, Frau Golowski gegenüber. Sein Herz stand ihm stille.
Er öffnete den Mund ohne zu fragen. »Ja«, nickte sie, »ein Bub«.
Er faßte ihre beiden Hände, spürte, wie er über das ganze Gesicht lachte,
ein Strom von Glück, wie er so mächtig und heiß ihn niemals erwartet, rann
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik