Seite - 229 - in Der Weg ins Freie
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konnte nicht weinen. Er sah um sich. Niemand war im Zimmer, und daneben
war es ganz still. Er hatte keine Sehnsucht in jenes andre Zimmer zu gehen
und keine Angst davor; er fühlte nur, daß es etwas Unsinniges gewesen wäre.
Sein Auge kehrte auf das tote Kind zurück, und plötzlich durchzuckte ihn die
bebende Frage, ob es denn auch wahr sein müßte? Ob nicht alle sich irren
konnten? Der Arzt so gut, wie der Unerfahrene. Er hielt seine flache Hand vor
die geöffneten Lippen des Kindes und ihm war, als hauchte etwas Kühles ihm
entgegen. Dann hielt er beide Hände über die Brust des Kindes, hin und
wieder war ihm, als spielte leicht bewegte Luft um den kleinen Leib. Aber er
fühlte da wie dort: Nicht Hauch des Lebens hatte ihn angeweht. Nun beugte
er sich nieder, und seine Lippen berührten die kühle Stirn des Kindes. Etwas
Seltsames, nie Gefühltes rieselte ihm durch den Körper bis in die
Zehenspitzen. Er wußte es nun: Das Spiel dort oben war für ihn verloren, sein
Kind war tot. Da erhob er langsam das Haupt und wandte sich fort. Die
Gartenhelle lockte ihn ins Freie. Er trat auf die Veranda, sah auf der Bank an
die Wand gelehnt Doktor Stauber und Frau Rosner sitzen. Beide stumm. Sie
sahen ihn an. Er wandte sich weg, als kennte er sie nicht, und trat in den
Garten. Der Schatten des Hauses fiel schräg über den Rasen hin; weiter oben
lag noch Sonne, doch stumpf und wie ohne Kraft die Luft zu durchleuchten.
Woran wollte ihn dies Licht nur erinnern, das Sonne war und doch nicht
glänzte, dieses Blau in der Höhe, das Himmel war und ihn doch nicht
segnete? Woran die Stummheit dieses Gartens, die ihm vertraut und tröstlich
sein sollte und die ihn heute wie etwas Fremdes und Ungastliches empfing?
Allmählich fiel ihm ein, daß ihn vor kurzem in einem Traum solch ein
schwerer, früher nie geahnter Dämmerschein umgeben und seine Seele mit
unverständlicher Traurigkeit erfüllt hatte. Was nun? sagte er vor sich hin,
suchte nach keiner Antwort und wußte nur, daß irgend etwas
Unvorhergesehenes und Unabänderliches geschehen war, das ihm für alle
Zeiten das Bild der Welt verändern mußte. Er dachte des Tages, an dem sein
Vater gestorben war. Ein wilder Schmerz hatte ihn damals überfallen; doch er
hatte weinen können, und die Erde war nicht mit einemmal dunkel und leer
geworden. Sein Vater hatte doch gelebt, war einmal jung gewesen, hatte
gearbeitet, geliebt, Kinder gehabt, Freuden und Schmerzen erfahren. Und die
Mutter, die ihn geboren, hatte nicht umsonst gelitten. Und wenn
er selbst heute hätte sterben müssen, so früh es gewesen wäre, er hatte doch
ein Dasein hinter sich, erfüllt von Licht und Tönen, Glück und Leiden,
Hoffnung und Angst, durchflutet von allem Inhalt der Welt. Und wenn Anna
heute dahingegangen wäre, in der Stunde, da sie einem neuen Wesen das
Leben gab, sie hätte gleichsam ihr Los erfüllt und ihr Ende hätte seinen
grauenvollen, aber tiefen Sinn gehabt. Doch das, was seinem Kind geschehen
war, war sinnlos, widerwärtig, ein Hohn von irgendwoher, wohin man keine
Frage und keine Antwort senden konnte. Wozu, wozu das alles? Was hatten
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik