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das, was geschehen war.
»Was steht in dem Telegramm?« fragte Georg.
»Es ist vom Direktor. Er hat eben die Nachricht erhalten, daß sie beim
Kahnfahren verunglückt ist. Erbittet nähere Weisungen von der Mutter.« Er
sprach kühl, hart, als läse er eine Notiz aus der Zeitung vor.
»Die unglückliche Frau! Sollten Sie nicht doch, Heinrich… «
»Was… ? Zu ihr? Was soll ich denn bei ihr tun?«
»Wer denn als Sie, kann ihr jetzt… und muß ihr beistehen?«
»Wer denn als ich?« Er blieb stehen. »Sie denken, weil es sozusagen
meinetwegen geschehen ist? Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich mich
total unschuldig fühle. Der Kahn, aus dem sie sich hat sinken lassen, und die
Wellen, die sie empfangen haben, können sich nicht schuldloser fühlen, als
ich. Das will ich nur feststellen. – Aber daß ich zu der Mutter hinein muß…
Ja, damit haben Sie vollkommen recht.« Und er schlug wieder die Richtung
nach dem Hause ein. »Wenn Sie wollen«, sagte Georg, »so bleibe ich bei
Ihnen.« »Was fällt Ihnen ein, Georg. Gehen Sie nur ruhig nach Hause. Was
soll ich noch alles von Ihnen verlangen? Und grüßen Sie Anna und sagen Sie
ihr, wie sehr ich beklage… na Sie wissen ja… Da wären wir. Sie gestatten,
daß ich noch ein paar Sekunden verziehe, ehe ich… « Er blieb stumm stehen.
Dann begann er wieder, und seine Züge verzerrten sich: »Ich will Ihnen etwas
sagen, Georg. Folgendes: Es ist ein großes Glück, daß man in gewissen
Augenblicken gar nicht weiß, was einem eigentlich begegnet ist. Wenn man
die Unheimlichkeit solcher Augenblicke nämlich sofort so stark empfände,
wie man sie später in der Erinnerung empfinden wird, oder wie man sie in der
Erwartung empfunden hat – man würde verrückt. Auch Sie Georg, ja Sie
auch. Und manche werden eben wirklich verrückt. Das sind wahrscheinlich
die Leute, denen die Gabe verliehen ist, sofort richtig zu empfinden. – Meine
Geliebte hat sich ertränkt, hören Sie? Es ist nicht anders zu sagen. Ist wirklich
früher andern etwas Ähnliches passiert? O nein. Sie glauben sicher, daß Sie
schon ähnliches gelesen oder gehört haben. Es ist nicht wahr. Heute das
erstemal… das erstemal, seit die Welt steht, ist so etwas passiert.«
Das Tor öffnete sich und fiel wieder zu. Georg stand allein auf der Straße.
Der Kopf war ihm wirr, das Herz bedrückt. Er ging ein paar Schritte, dann
nahm er einen Wagen und fuhr nach Hause. Er sah die Tote vor sich, so wie
sie an jenem hellen Sommertage vor der Bühnentür gestanden war, in roter
Bluse und kurzem, weißen Rock, mit den irrenden Augen unter dem rötlichen
Schopf. Er hätte damals übrigens geschworen, daß sie mit dem Komödianten,
der Guido ähnlich sah, ein Verhältnis hatte. Vielleicht war es auch so. Das
konnte eine Art von Liebe gewesen sein und was sie für Heinrich fühlte, eine
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik